Schreinerei bietet Süchtigen eine Chance


«Wir sind ein normaler Arbeitgeber mit etwas aussergewöhnlichen Mitarbeitenden»: Barbara Held, Contact Arbeit «Holz + Textil». Bild: Caroline Schneider
«Wir sind ein normaler Arbeitgeber mit etwas aussergewöhnlichen Mitarbeitenden»: Barbara Held, Contact Arbeit «Holz + Textil». Bild: Caroline Schneider
Suchthilfe. Contact Arbeit bietet drogenabhängigen Menschen betreute Arbeitsplätze an. In der Schreinerei werden unter besonderen Sicherheitsbestimmungen einfache Serienprodukte aus Massivholz und ein kleines Sortiment an Eigenkreationen produziert.
Zugeschnittenes Massivholz liegt aufgestapelt in einer Ecke. An der Kehlmaschine profiliert ein Mann mit orangem Gehörschutz ein paar Holzbretter. Ein anderer richtet die Kante seines Holzbretts ab.
Normaler Arbeitsalltag in einer ganz normalen Schreinerei? Der Anschein trügt. Die Menschen hier stehen alle unter dem Einfluss von Drogen: je nachdem einem Gemisch aus Alkohol, Kokain, Heroin oder Amphetaminen. «Viele von ihnen sind polytoxikoman unterwegs», sagt Barbara Held, Leiterin von Contact Arbeit «Holz + Textil». Das heisst, sie konsumieren mehrere Drogen gleichzeitig. Wenn eine Substanzabhängigkeit vorliegt, wird sie oft auch von einer psychischen Krankheit wie etwa einer Depression oder einer Form von Schizophrenie begleitet.
Die Schreinerei von Contact Arbeit in Bern bietet Platz für 18 bis 20 Personen. «In unsere Programme werden ausschliesslich aktiv konsumierende Menschen aufgenommen», erklärt Held. «Das Ziel ist nicht Therapie, sondern Schadensminderung. Wir möchten unseren Klientinnen und Klienten eine sinnvolle Arbeit geben und sie stabilisieren.» Sie verpflichten sich für mindestens drei Stunden pro Einsatz. Regeln gibt es nur wenige. Pünktliches Erscheinen ist eine dieser Regeln. Ebenso das Verbot, am Arbeitsplatz Drogen und Alkohol zu konsumieren. Doch anders als bei jeder anderen Schreinerei müssen die Klienten bei der Arbeit nicht nüchtern sein.
Alkoholisiert an der Tischkreissäge? Da mag sich manch einer fragen, wie das geht. «Drogenabhängige Menschen sind nicht arbeitsfähig, wenn sie ihre Droge nicht intus haben», erklärt Held. «Sie brauchen ihren Pegel. Denn wenn die Wirkung nachlässt, beginnen die Entzugssymptome, sie werden unruhig und unkonzentriert.»
Der Betrieb ist nicht bei der Suva versichert. Denn die Suva verlangt, dass Maschinen nicht unter Drogeneinfluss bedient werden. Deshalb hat die Stiftung eine private Versicherung abgeschlossen.
«Es ist erstaunlich, aber wir haben nicht mehr Unfälle als andere Schreinereien», erzählt Ernst Marti, Arbeitsagoge und Schreiner, der die Werkstatt in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Schreinern führt. Das Schmerzempfinden sei bei Substanzabhängigen heruntergesetzt. Deshalb spüren sie erst später als andere, wenn sie sich an der Ständerbohrmaschine in den Finger bohren. Diese Tatsache erfordert spezielle Aufmerksamkeit vom betreuenden Personal. Seit der Gründung des Arbeitsprogramms vor mehr als 40 Jahren hätten sie keinen einzigen schweren Unfall gehabt.
Contact ist eine Stiftung, die im Kanton Bern tätig ist (siehe Kasten), Contact Arbeit «Holz + Textil» ist ihr ältestes Arbeitsprogramm. Kürzlich wurde im Betrieb ein Maschinensicherheitskonzept eingeführt. Darin werden die Klienten einer Maschinenkompetenzstufe zugeordnet. Auf der dritten Stufe kann jemand zum Beispiel selbstständig Mass- und Winkeleinstellungen an einer Maschine vornehmen. «Die Maschinenkompetenz ist stark von der Tagesform des Klienten abhängig», sagt Marti. Deshalb wird jedem Klienten vor jeder Schicht die entsprechende Maschinenkompetenzstufe neu zugeordnet. In den drei Stunden finden zudem regelmässig Sichtkontrollen statt.
«Die Aufmerksamkeitsspanne ist bei Menschen mit einer Suchtmittelproblematik gering. Wenn ich merke, dass jemand ‹absackt›, dann nehme ich ihn von der Maschine weg und lasse ihn etwas schleifen.» Zudem seien die Klienten untereinander sehr aufmerksam. «Wenn sie merken, dass die Leistung ihres Kollegen abfällt, wird es mir unverzüglich gemeldet.» Wo möglich, wird eine zusätzliche Schutzvorrichtung an der Maschine angebracht, um die Mitarbeitenden zu schützen. Gearbeitet wird selbstverständlich auch hier mit Stosshölzern, wie in einer normalen Schreinerei.
«Im Gegensatz zu einem Schreinerlernenden, der die Bandsäge als Erstes bedienen lernt, dürfen unsere Klienten an dieser erst arbeiten, wenn sie sicher sind und schon einiges an Erfahrung haben», sagt Barbara Held. Denn bei der Bandsäge sei es schwierig, eine Schutzvorrichtung anzubringen.
Die Stiftung geht das Thema Sicherheit mit viel Sorgfalt an. Jedes Jahr findet ein Audit statt, das die Umsetzung des Sicherheitskonzeptes aller Contact-Betriebe überprüft.
Die Arbeit bei Contact Arbeit «Holz + Textil» ist für Ernst Marti spannend und anspruchsvoll. «Ich wusste nicht, was mich erwartet, als ich mich auf diese Stelle beworben habe. Ich hatte nie zuvor mit Drogenabhängigen gearbeitet.» Er musste lernen: Unverbindlichkeit und Unzuverlässigkeit gehören in der Arbeit mit dieser Klientel dazu. Die Sucht dominiert ihr Leben. «Einige haben viel Interessantes zu erzählen und einen guten Humor.»
«Unter den Klienten hat es immer ein paar ‹Perlen›, die ganz tolle Arbeit leisten und handwerklich sehr begabt sind», sagt Marti. Patricia ist eine von ihnen. Die 44-Jährige muss Stunden «abarbeiten». Sie wurde von den Behörden vor die Wahl gestellt, eine nicht bezahlte Busse im Gefängnis abzusitzen oder gemeinnützige Arbeit zu leisten. Für sie hat Letzteres nicht nur bestrafenden Charakter, denn sie erachtet die Arbeit in der Schreinerei als sinnvoll. «Es gibt mir ein gutes Gefühl», sagt sie, reibt ihre Hände aneinander und blickt auf die Tischkante. Sie war in ihrem letzten Lehrjahr als Bauspenglerin «abgestürzt» und hatte angefangen, Heroin intravenös zu konsumieren. Heute nimmt sie Substitutionspräparate. «Ich habe zehn Jahre von meinem Leben verschlafen. Einfach verschlafen», doppelt sie nach, und um ihre Augenlider legt sich ein kaum merklicher Schatten. Die Tätigkeit in der Berner Schreinerei von Contact Arbeit spornt sie an (es gibt auch eine Schreinerei in Thun, die vor allem Einzelanfertigungen ausführt). Denn hier kann sie ihre handwerklichen Begabungen ausleben und erhält viel positives Feedback.
Auf der einen Seite ist Contact Arbeit ein gewöhnlicher Arbeitgeber mit speziellen Arbeitnehmenden. Leistung wird erbracht, Produkte entstehen. Jedoch ist die benötigte Zeit pro Werkstück um einiges höher als bei einer normalen Schreinerei. Laut Barbara Held steht Contact Arbeit «Holz + Textil» nicht in Konkurrenz zu anderen Betrieben. «Wir müssen auch unseren Preis haben und können unsere Produkte nicht unter dem Marktpreis anbieten», sagt sie. Contact Arbeit habe ein kleines Sortiment an Eigenprodukten und sei auf einfache Serienproduktionen aus Massivholz ausgerichtet. «Allzu hochstehende Produkte können wir gar nicht herstellen. Der Markt, den wir bespielen, ist somit sehr klein.»
Der Z-Hocker beispielsweise erfreut sich grosser Beliebtheit. «Der Designer kam vor Jahren auf uns zu und hat die Produktion dieses Hockers in Auftrag gegeben», erzählt Held. Heute führt ihn sogar Möbel Pfister im Sortiment. «Wenn ein Produkt gut läuft, wie zum Beispiel unsere Wechselrahmen, versuchen wir, dieses Produkt zu diversifizieren.» Mittlerweile seien eine Hochbeet-Version und eine Möbellinie entstanden. «Und neu werden wir den Palettensandkasten für Kinder herstellen.»
Held arbeitet seit zweieinhalb Jahren bei Contact Arbeit «Holz + Textil» und ist dafür verantwortlich, dass die Produktion ausgelastet ist. Sie hat eine Möbelschreinerlehre absolviert, Sozialpädagogik studiert und sich im Management von Non-Profit-Organisationen weitergebildet. Auf die Frage nach ihrem persönlichen Bezug zum Thema Sucht antwortet sie: «Alle haben einen Bezug zum Thema Sucht. Die Erinnerungen an das Elend im Berner Kocherpark oder am Zürcher Letten, als harte Drogen noch im öffentlichen Raum konsumiert wurden, sind in jedem von uns noch präsent.»
Die Arbeit mit einer polytoxikomanen Klientel sei streng und berührend zugleich. «Es ist wichtig, dass man mitfühlt, aber nicht mitleidet», sagt Held. Rückschläge gehören zum Alltag, und es sei wichtig, diese nicht persönlich zu nehmen.
Die Arbeit in der Schreinerei gibt Halt, garantiert aber keinen Heilungsprozess. Held blickt aus dem Fenster und sagt: «Wichtig ist, immer wieder vorwärtszuschauen.»
Und Helds grösster Wunsch? «Ich wünsche mir, dass es eine Schreinerei da draussen gibt, die unserem besten und qualifiziertesten Klienten ein Praktikum ermöglicht. Das wäre unser grösstes Glück.»
Contact ist eine Berner Stiftung für Suchthilfe. Als Kompetenzzentrum für Schadensminderung erbringt sie ambulante Dienstleistungen im Auftrag des Kantons Bern. Contact Arbeit ist einer von fünf Teilbereichen der Stiftung und bietet substanzabhängigen Menschen in Bern, Biel und Thun einen betreuten Arbeitsplatz. Das Angebot ist vielfältig und niederschwellig: Schreinerei, Textilatelier, Recycling oder auch Maler- und Gipserarbeiten. Die Angebote der Stiftung werden zur Hälfte über einen Leistungsvertrag mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern finanziert. Contact Arbeit erwirtschaftet knapp 40 Prozent der Einnahmen mit dem Verkauf der eigenen Produkte.
www.contact-arbeit.chVeröffentlichung: 08. März 2018 / Ausgabe 10/2018
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