Ein Leben zwischen zwei Welten

Wie dieses Projekt in der Nähe von Moskau zeigt, müssen die Schreinerarbeiten einem hohen Standard gerecht werden. Bilder: Jörg Duss

Russland.  Seit bald 20 Jahren bewegt sich der Alltag des Luzerners Jörg Duss zwischen dem Prunk Moskaus und der Einfachheit der zentralrussischen Provinz. Er führt ein Leben als Schreinermeister der Superreichen auf der einen und als Wohltäter für die Ärmsten auf der anderen Seite.

Tarussa. Das ist eine Kleinstadt mit etwas über 10 000 Einwohnern irgendwo im Nirgendwo der schier endlosen Weite Zentralrusslands. Laut Wikipedia-Eintrag ist Tarussa vor allem dadurch bekannt, dass hier eine ganze Reihe berühmter russischer Dichter, Schriftsteller und Künstler gelebt oder sich zumindest für längere Zeit aufgehalten hat.

Erwähnt werden Namen wie Wiktor Borissow-Mussatow (russischer Maler), Konstantin Paustowski (russischer Schriftsteller), Nikolai Sabolozki (russischer Dichter und Übersetzer) oder Andrei Tarkowski (russischer Regisseur). Und dann, ganz unten auf dieser mit «Bürger der Stadt» betitelten Liste, steht ein gewisser Jörg Duss. «Schweizerisch-russischer Wohltäter, der Gründer der Stiftung ‹Raduga Tarusskaja›», heisst es da noch im Anhang.

Doch was hat ein Schreinermeister aus dem luzernischen Pfeffikon inmitten einer Aufzählung russischer Persönlichkeiten einer durch und durch russischen Kleinstadt zu suchen? Ein Blick zurück.

Der Unternehmer

Jörg Duss kam im Jahr 1997 im Auftrag einer Stiftung nach Russland, um in eben diesem Tarussa eine alte, heruntergekommene Schreinerei wieder auf Vordermann zu bringen. Obwohl das Engagement der Stiftung nach zwei Jahren endete, blieb Duss in Tarussa und machte respektive macht noch heute auf eigene Faust weiter.

«Von der ersten Minute an spürte ich, dass dies mein Platz ist und dass hier etwas verändert werden kann», erinnert sich der Schreinermeister an seine Anfangszeit in Russland zurück. Die ersten anderthalb Jahre habe er in einem Studentenwohnheim gelebt. Ohne Bett, ohne fliessendes Wasser, zusammen mit 50 Jugendlichen, wovon die Hälfte Vollwaisen gewesen seien.

Das gemeinsame Essen in der Schulkantine sei jeweils spärlich ausgefallen, erinnert sich Duss. Es habe ihn aber gelehrt, das zu schätzen, was man habe, und nicht jenem nachzutrauern, was man nicht habe.

Trotzdem, einfach sei es zu Beginn ganz bestimmt nicht gewesen, sagt der 45-Jährige etwas nachdenklich. «Das grösste Problem war, dass ich anfangs überhaupt keine Sprachkenntnisse vorzuweisen hatte.» Alles sei neu gewesen. Telefonieren konnte er zum Beispiel nur in einer offiziellen Telefonzentrale, was ohne Russischkenntnisse ein schwieriges Unterfangen gewesen sei.

Keine fundierte Ausbildung

Anders als gewohnt gestaltete sich für Duss derweil auch der Aufbau der Schreinerei. «In den Neunzigerjahren waren die Verhältnisse in der hiesigen Schreinerei weit hinter denen zurück, die wir aus der Schweiz kannten und uns gewohnt waren», erklärt Duss. Die Modernisierung habe dann aber auch hier Schritt für Schritt Einzug gehalten. Der grösste Unterschied zwischen Schweizer und russischen Schreinern sei die Ausbildung, sagt Duss weiter. Eine von Grund auf fundierte Ausbildung, wie man sie in der Schweiz kenne, gebe es in Russland schlichtweg nicht. Man werde einfach von den älteren Mitarbeitern angelernt.

Was die Arbeiter, ja die Russen ganz generell jedoch perfekt beherrschten, sei die Improvisation. Etwas, das auf Montage jeweils sehr hilfreich sein könne.

Schreiner für die Superreichen

Seit diesen Anfangszeiten hat sich indes so einiges getan. So arbeiten in Duss’ Schreinerei in Spitzenzeiten an die 100 Angestellte. Der ganze Betrieb hat mittlerweile eine derartige Grösse angenommen, dass Duss vor rund einem Jahr eine stellvertretende Direktorin eingesetzt hat, welche das Tagesgeschäft übernimmt. Das wiederum erlaubt es dem Chef, sich hauptsächlich um die Kundenkontakte zu kümmern. Kunden, die grösstenteils aus dem Grossraum Moskau stammen und wohl das sind, was man als sehr gut betucht bezeichnen würde.

Ja, Jörg Duss ist der Schreinermeister für die Reichen und Superreichen der russischen Metropole. «An diese Kategorie von Klientel kommt man nur über Beziehungen», sagt Duss. Er habe das Glück gehabt, die passenden Leute kennenzulernen, die ihm Zutritt in dieses Segment verschafft hätten. Danach sei es allerdings wichtig, dass die Qualität stimme. Das sei auch hier in Russland das A und O, denn Geld spielt auch bei den Superreichen eine Rolle.

Doch in seinem Segment laufe viel über das Emotionale, erklärt Duss weiter. Gefalle etwas seinen Kunden, dann habe der Preis keine allzu grosse Priorität mehr.

Der Wohltäter

Um jeden einzelnen Franken respektive um jeden einzelnen Rubel geht es derweil bei Duss’ zweiter Tätigkeit, um nicht zu sagen in seinem zweiten Leben, denn wie der Tarussa-Wikipedia-Eintrag besagt, ist Jörg Duss nicht bloss der Schreinermeister der Reichen, sondern eben auch Wohltäter. Parallel zu seiner Aufbauarbeit in der Schreinerei hat der Luzerner angefangen, humanitäre Hilfe zu organisieren. So hat er nach ein paar Jahren die Stiftung Raduga (Regenbogen) ins Leben gerufen, die mittlerweile ein fester Bestandteil im Leben der Bürger im Bezirk Tarussa ist.

Das grösste Projekt der Stiftung ist das Schulernährungsprojekt. «Wir liefern von September bis Mai rund 15 Tonnen Lebensmittel an alle Dorfschulen und Kindergärten im Bezirk Tarussa aus», sagt Duss nicht ohne Stolz. Zurzeit umfasst das Programm um die 500 Kinder, die dadurch drei Mahlzeiten pro Tag erhalten. Auch hat die Stiftung in den vergangenen Jahren einen Kindergarten und mehrere Ambulatorien in den Dörfern erstellt, damit die Bevölkerung auch auf dem Land eine angemessene medizinische Versorgung erhält. Ebenfalls finden in der Stiftung Senioren, Studenten, Menschen mit einer Behinderung und in jüngster Vergangenheit auch Flüchtlinge aus der Ukraine Unterstützung.

Auf die Frage, ob er sich denn als so etwas wie ein Entwicklungshelfer sehe, reagiert Duss zumindest leicht verärgert. «Entwicklungshelfer? Ich sage immer, jeder Mensch braucht zweimal Glück im Leben. Das erste Mal, wenn sich seine Eltern kennenlernen, und das zweite Mal bei der Frage des Ortes, an dem er auf die Welt kommt.» Er selbst habe in beiden Beziehungen grosses Glück gehabt, und dies ermögliche es ihm heute, anderen Menschen, die einfach nur Pech hatten, etwas weiterzugeben.

Zwischen Moderne und Einfachheit

Es sind tatsächlich zwei verschiedene Welten, in denen Jörg Duss lebt. Zwei Welten, die für den Luzerner längst zur Heimat geworden sind. «Wer schon einmal in Russland war, der hat die russische Gastfreundschaft und die Offenheit der Menschen kennengelernt», sagt er. Irgendwann komme der Moment, in dem einen die «russische Seele» packe. Und wenn man sich dann noch verliebe und die Partnerin fürs Leben finde, dann sei es endgültig gelaufen.

Nein, Jörg Duss und seine russische Frau zieht es nicht mehr zurück in die Schweiz. Abgesehen von dem einen Termin pro Jahr, an dem der Schreinermeister jeweils für eine Vortragsreihe in seine alte Heimat reist, um über sein Leben und sein Schaffen zu berichten und zugleich Spendengelder für seine Stiftung zu sammeln.

Ansonsten hat Jörg Duss aber sowohl sein privates als auch sein berufliches Glück gefunden – irgendwo in der Weite zwischen der aufwühlenden Moderne Moskaus und der bewegenden Einfachheit der zentralrussischen Provinz.

www.raduga-stiftung.com

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Veröffentlichung: 02. April 2015 / Ausgabe 14/2015

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