Aufgebaut in Kreisen
Überschneidungen sorgen in der Holokratie für kurze Entscheidungswege. Illustration: Sandra Stocker
Überschneidungen sorgen in der Holokratie für kurze Entscheidungswege. Illustration: Sandra Stocker
Betriebsführung. Schreinereien sind stark von hierarchischen Strukturen geprägt. Zwei Autoren einer Studienarbeit an der Hochschule Luzern haben sich auf die Suche nach Betrieben gemacht, die nach dem holokratischen Modell organisiert sind. Immerhin: Einen haben sie gefunden.
Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und fordert Beweglichkeit von Unternehmen und ihren Mitarbeitenden. Und sie verlangt oft auch einen Kulturwandel im Betrieb. Ein Ansatz dazu könnte eine holokratische Organisationsstruktur sein (siehe Kasten unten). Vorwiegend technologieaffine und entwicklungsfokussierte Unternehmen haben in den vergangenen Jahren mit neuen Organisationsformen und Arbeitsmethoden wie Holokratie experimentiert.
Der Begriff Holokratie geht zurück auf das altgriechische Wort holos, das so viel heisst wie vollständig, ganz. Ein Holon ist «der Teil eines Ganzen». Das Organisationsmodell Holokratie wurde 2015 vom US-amerikanischen Unternehmer Brian Robertson entwickelt. Er setzte es in seiner IT-Firma Ternary Software Corporation um. Ziel war es, durch alle Ebenen hindurch Entscheidungen mit Transparenz und partizipativer Beteiligung zu ermöglichen.
Der Ansatz der Holokratie klingt auf den ersten Blick verlockend: keine Vorgesetzten mehr und hohe Selbstbestimmung. Der entscheidende Unterschied zum klassischen Organisationsverständnis besteht darin, dass die Hierarchie durch das Modell des Holons ersetzt wird. Ein Holon besteht aus Kreisen, man kann diese auch Teams nennen, die wieder in einem grösseren Teamkreis enthalten sind. Die Steuerung und Kommunikation der einzelnen Teamkreise ist entscheidend. Weil es den klassischen Chef in Form von Gruppen- und Abteilungsleiter nicht mehr gibt, werden die einzelnen Rollen der Teammitglieder durch Regeln definiert. In moderierten «taktischen Meetings» werden inhaltliche Pendenzen verhandelt. Im Fokus steht die effiziente Entscheidungsfindung im Tagesgeschäft.
In sogenannten «Governance Meetings» wird geklärt, welche Rollen und Regeln in der Zusammenarbeit gelten. Hier können Organisationsänderungen beschlossen werden wie das Schaffen eines neuen Teamkreises. Das kann beispielsweise notwendig sein, wenn eine Rolle überlastet ist und auf mehrere Teammitglieder verteilt werden muss. Kein Teammitglied wird dabei zurückgelassen, auch keines darf zurückbleiben und weniger leisten, als es könnte.
Die hohe Transparenz und die ständige Kommunikation sind sehr fordernd, natürlich wertschätzend, aber keineswegs kuschelig oder gefällig. Darin liegt die Herausforderung der Holokratie, weil manches freigelegt wird, was bisher im Hintergrund stattfand und keinem richtig bewusst war.
Nun stellt sich die Frage: Kann der holokratische Ansatz, der in Entwicklungsteams oder PR-Agenturen erfolgreich gelebt wird, auf Handwerks- oder Produktionsbetriebe wie Schreinereien übertragen werden? Welche Firmenkultur braucht es dazu?
Eine nicht repräsentative Umfrage ergab, dass in vielen bekannten Schreinerbetrieben, Beratungsfirmen für das Holzgewerbe und auch beim Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten (VSSM) die Holokratie bisher kaum ein Begriff ist. Es hat sich gezeigt, dass die Führungsstile der Schreinerbetriebe grundsätzlich patriarchalisch, jedoch zunehmend partizipativ organisiert sind. Das heisst, dass die Mitarbeiter in einzelnen Abteilungen bei Entscheidungen mit einbezogen werden. Damit haben sie direkten Einfluss auf die Umsetzung von Arbeiten und Projekten. Von einer kooperativen oder gar holokratischen Führungskultur kann man dabei aber noch nicht sprechen.
Mit der Schreiner 48 AG hat sich dennoch ein Betrieb finden lassen, der sich nach dem holokratischen Ansatz organisiert. Gründer und Inhaber Markus Walser hält fest, dass speziell in grossen Unternehmen die Hierarchiestufen mit Macht einhergehen. Für ihn funktioniert das in einem Betrieb mit über 60 Mitarbeitenden aber nicht. «Der Chef oder der Teamleiter erntet bei den Mitarbeitenden nur durch menschliche und handwerkliche Kompetenz Respekt und nicht durch eine definierte Position in einem Organigramm», sagt Walser.
Sein Unternehmen ist aber auch kein typischer Schreinerbetrieb. Kleinaufträge und Servicearbeiten machen das Hauptvolumen aus. Der Betrieb hat rund 30 Serviceautos mit je über 2000 Ersatzteilen im Einsatz und ist in Schlieren bei Zürich angesiedelt. Die gut 20 000 Kleinaufträge im Jahr werden über ein selber entwickeltes ERP-Programm verwaltet und selbstständig durch die einzelnen Mitarbeiter abgewickelt. Die Teams sind nach Regionen organisiert. Am Hauptsitz in Schlieren sind die Gruppen der Administration, die Lernendenausbildung und die IT stationiert.
Walser ist überzeugt, dass es auch in einer holokratischen Organisation verschiedene Teamleiter und letztendlich einen Chef braucht. Dieser prägt die Firmenkultur, wenn er als Vorbild mit Verantwortung, Verlässlichkeit und Vertrauen vorangeht. So definiert Walser Führung in seinem Leitbild und schreibt in Anlehnung an die Schlagworte im Leitbild «Vührung» extra mit V. Alle zwei Wochen trifft man sich im Unternehmen zu einem Teamleiter-Austausch. «Die Illusion einer strukturierten Vorbereitung haben wir schon lange aufgegeben», sagt Walser. Die Teamleiter seien derart im Tagesgeschäft eingebunden, dass dafür keine Zeit bleibe. Sie telefonieren und administrieren neben ihrer handwerklichen Tätigkeit praktisch gleich viel wie ein Sekretär oder eine Sekretärin. Deshalb kommen sie mit den Pendenzen zum Teamleiter-Austausch, besprechen diese, einigen sich oder klären Dinge ab, wenn sie eine Vertiefung brauchen. Eine universelle Traktandenliste ist dabei sicher hilfreich. Um den holokratischen Ansatz umzusetzen, muss sich ein Mitarbeitender im Grundsatz mit dem Unternehmen identifizieren können. Das bedeutet nicht, dass man seine Persönlichkeit aufgeben muss, jedenfalls nicht bei Schreiner 48. Im Gegenteil: Das Wesen eines Menschen lässt sich nicht ändern, aber man kann den Mitarbeitenden im richtigen Team einsetzen. Voraussetzung dafür ist, dass die Person die Werte und die Umgangsformen im Betrieb teilt und im Auftrag einen Sinn sieht.
Walser ist es wichtig, dass neue Mitarbeitende und Lernende so früh wie möglich die Verantwortung für den ganzen Prozess übernehmen, vom Erstkontakt mit dem Kunden bis hin zum Arbeitsrapport und zur Vorbereitung der Rechnung. Walser ist der Meinung, dass man die Mitarbeitenden dahingehend motivieren müsse, dass sie «die Arbeit mit einem Punkt abgeben und nicht mit einem Doppelpunkt, nach dem noch viele Fragen oder Pendenzen offen sind». Förderlich dafür ist, dass der Mitarbeitende nebst der Verantwortung auch die Kompetenzen dafür erhält. Aus Perspektive des Unternehmers bedeutet dies, Macht zu delegieren und nach unten abzugeben.
Walser ist der Meinung, dass die Mitarbeitenden mit einem leichten Unterbestand gefordert sind, gute Lösungen zu suchen, Unnötiges wegzulassen – und sie so nicht in die Komfortzone abrutschen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schreiner 48 haben relativ lange Präsenzzeiten mit kurzen Mittagspausen und stehen oft im Stau. Dafür werden sie jedoch weit besser entlöhnt als branchenüblich. Denn die Gefahr besteht durchaus, dass es sich die Mitarbeitenden in einem Umfeld mit grosser Selbstbestimmung bequem machen.
Die Teamgrösse ist ein weiterer wichtiger Faktor. Ideal sind 3 bis 7 Mitglieder. Denn durch die direkt sichtbare Arbeitsleistung jedes Einzelnen orientieren sich alle am Besten. Bei grossen, komplexen Teams zerstreuen Verantwortung und Arbeitsleistung. Es besteht die Gefahr, dass Mitarbeitende Schuldige suchen, die noch schlechter sind als sie selber. Letztendlich braucht die Verantwortung immer ein Gesicht und einen Namen. Denn in Krisensituationen verflüchtigt sich die Verantwortung häufig sehr schnell. Dann rufen alle nach dem Chef, und die Holokratie löst sich auf.
Das Beispiel von Schreiner 48 zeigt, dass mit dem holokratischen Ansatz nicht alle Probleme einfach gelöst sind. So ist im Moment nur eine Person für die Entwicklung und Betreuung des selber programmierten ERP zuständig. Konsequenterweise müsste auch hier der Teamkreis um mindestens ein Holon aufgestockt werden, um dem Ansatz der Holokratie zu entsprechen.
Peter Wagner (PW) (r.) ist gelernter Schreiner und Techniker HF Innenausbau. Er arbeitet als Projektentwickler und stellvertretender Geschäftsführer bei der Lötscher Holding AG in Meggen LU. Marco Meier (MM) (l.) ist gelernter Tiefbauzeichner und Kommunikator FH. Er arbeitet als Prorektor am Berufsbildungszentrum Bau und Gewerbe (BBZB) Luzern. Der Beitrag ist im Rahmen ihrer Weiterbildung zum Executive MBA an der Hochschule Luzern entstanden.
Veröffentlichung: 16. April 2020 / Ausgabe 16/2020
Nachfolgeregelung. Die Stadtbasler Schreinereien Voellmy und Tschudin bündeln ihre Kräfte für die Zukunft. Die 1895 gegründete Voellmy AG wird ab dem 1. Januar 2025 ihre Kompetenzen und ihre operativen Tätigkeiten im Privatkundenbereich in das neu geschaffene Dienstleistungsangebot «Holzmanufaktur Voellmy» der 85-jährigen Tschudin AG einbringen.
mehrReform Weiterbildung. 2025 tritt ein reformiertes Weiterbildungssystem für die höhere Berufsbildung (HBB) in Kraft. Die umfassenden Anpassungen versprechen eine bessere Qualifizierung, mehr Flexibilität und praxisorientierte Lerninhalte.
mehrPaidPost. Die orangefarbenen Service-Busse von Schreiner 48 stehen im Dauereinsatz. Möglich ist das nur, dank dem Garagist Philipp Huber und seinem Team
mehr