Schindeln kommen wieder in Mode

Holzschindelfassaden kommen auch bei neuen Überbauungen wie jener in Stäfa ZH zum Einsatz. Bild: Blumer-Lehmann AG

Schindelmachen.  Im letzten Jahrhundert wurden die Holzschindeln fast vollkommen von neuen Werkstoffen verdrängt. Doch das Handwerk ist so beständig wie die Schindeln selbst. Heute erlebt es eine Renaissance. Die Technik ist dabei dieselbe geblieben wie vor hundert Jahren.

Das Schindelmachen ist ein uraltes Handwerk. Bei römischen Fundstätten in Solothurn und Oberwinterthur ZH konnten Schindeln aus der Zeitspanne zwischen 7 und 70 n. Chr. datiert werden. Bis ins 14. Jahrhundert wurden in der Schweiz für Dächer und Fassaden Holz und Stroh verwendet. Erst dann begann man, flache Tonziegel herzustellen. In abgelegenen Dörfern und den schwer erreichbaren Berggebieten blieben die Holzbedachungen erhalten.

In der vorindustriellen Zeit nutzte man jene Materialien, die vor Ort verfügbar waren und sich einfach bearbeiten liessen. Auch der Landwirt konnte Schindeleisen und Hammer bedienen.

Abgelöst durch neue Werkstoffe

Im 20. Jahrhundert wurden die Holzschindeln von Dachsteinen und Fassadenplatten aus Bitumen, Eternit und Aluminium weitgehend verdrängt. Die neuen Materialien waren günstig, einfach zu produzieren und standen im Ruf, langlebig zu sein. Zudem wurden Brandschutzvorgaben erlassen, die Dach- und Fassadenbedeckungen aus Holz in stärker besiedelten Ortschaften verboten. Das Handwerk des Schindelmachers kam praktisch zum Erliegen.

Trendwende erkennbar

Die Josef Bucher AG im luzernischen Escholzmatt stellt seit 1918 Schindeln her. In den 1950er-Jahren, als die Nachfrage stark zurückging, mussten die Schindler anderweitig beschäftigt werden. Der Entlebucher Familienbetrieb verlagerte das Kerngeschäft auf die Sägerei. Doch die Besitzer wollten das alte Handwerk nicht komplett einstellen. Heute profitiert die dritte Generation davon, dass man damals trotz schwindenden Markts ausgeharrt hatte. Unlängst zeichnete sich eine Trendwende ab. Zählte die Schindelwerkstatt vor 15 Jahren noch vier Mitarbeiter, sind es heute elf. Und bereits machen Schindeln für Neubauten 60 Prozent des Umsatzes aus. In der Schweiz gibt es noch eine Handvoll weiterer Schindelmacher: die Schindelfabrik in Pfäffikon SZ und kleinere Betriebe im Bündnerland, in der Ostschweiz, in der Region La Gruyère und im Waadtland, nahe der Freiburger Voralpen, wo Holzschindeln als ein Wahrzeichen gelten. Dachdecker spalten dort den Winter durch selber Schindeln und schlagen sie im Sommer an.

Schindeln an Neubauten

Ein bekanntes Beispiel für Schindelfassaden in der zeitgenössischen Architektur findet sich in St. Moritz GR, wo der Londoner Architekt Lord Norman Foster 2002 für ein luxuriöses, ufoähnliches Wohnhaus eine Fassade aus Holzschindeln wählte.

Wegen der markanten Ausdruckskraft und der vielseitigen Gestaltungsmöglichkeiten wird die Schindelfassade vermehrt bei öffentlichen Bauten, Kirchen, Brücken und auch im Wohnungsbau eingesetzt. Wie beispielsweise bei einer grossen Überbauung in Stäfa am Zürichsee: Sieben Wohnhäuser mit Miet- und Eigentumswohnungen sind mit handgespaltenen Schindeln bekleidet. Für diesen Grossauftrag spannte die Josef Bucher AG mit der Schindelfabrik Peter Müller AG aus Pfäffikon SZ zusammen.

In Anlehnung an altes Dorfbild

Aus der Werkstatt im Luzernischen stammen auch die Schindeln für den Ersatzneubau der Raiffeisenbank in Unteriberg SZ.Daniel Scheuber, Architekt vom Luzerner Büro Roman Hutter Architektur, leitete das Projekt in der Schwyzer Gemeinde. Mitten im Dorf sollte eine neue Filiale der Raiffeisenbank entstehen, kombiniert mit Wohnungen in den oberen Stockwerken.

Die umliegenden Häuser waren ursprünglich mit Holzschindeln bedeckt, diese sind jedoch in den letzten Jahrzehnten durch Eternitschindeln ersetzt worden. Die Architekten wollten mit einer Holzschindelfassade die alten Bautraditionen wieder aufnehmen. «Bei der Ausführung wurde bald klar, dass mit den Holzschindeln auch das dazugehörige Handwerk verloren gegangen war», erzählt Scheuber. Zimmermann Martin Kälin, Inhaber der Waldstatt Holz- und Blockbau GmbH, die mit dem Auftrag betraut wurde, musste sich erst mit dem Material und der Konstruktion vertraut machen und das Handwerk neu erlernen. Im ersten Monat ging das Decken langsam voran, bald wurden die Zimmerleute aber geübt im Umgang mit Schindelhammer und Stiften. Und am Ende schindelten sie zu zweit so schnell, wie zuvor zu sechst.

Die Bauherrschaft stand hinter dem Projekt und stellte auch die Mehrkosten gegenüber anderen Materialien nicht infrage. Anders am Stammtisch, dort sei die Schindelfassade lange kritisch diskutiert worden. «Das ist doch altmodisch», tönte es. Scheuber erzählt, wie die älteren Herren aus dem Dorf das Entstehen der Fassade über Monate mitverfolgt haben. Mit der Zeit begannen die Dorfbewohner, die traditionelle Fassade zu schätzen, und einige steckten sich gar ein Schindelstück zum Andenken ein.

Sorgfältige Auswahl des Holzes

Beim Ersatzneubau wurden 70 mm breite Rundschindeln aus Fichte mit einer Fachweite von 40 mm eingesetzt. Der Holzschutz auf wässriger Basis nimmt die natürliche Verfärbung der Fassade vorweg. Über die kommenden Jahrzehnte wird sich dieser verflüchtigen und darunter das charakteristische Silbergrau auftauchen.

Schindeln werden hauptsächlich aus drei Holzarten hergestellt: Fichte und Lärche für die sichtbaren Schindeln, Weisstanne im Unterbau. Bei der Josef Bucher AG stammt das meiste Holz aus der Unesco-Biosphäre Entlebuch. Ausgewählt werden ausschliesslich Bäume, die auf 1300 m oder in noch höheren Lagen gewachsen sind. Das Holz ist fester, weil die engeren und regelmässigen Jahrringe die Spaltfähigkeit verbessern. «Für Schindeln braucht es fein gewachsenes, starkes Holz», sagt Geschäftsleiter Hansjörg Bucher. Das Unternehmen verwendet ausschliesslich Bäume, die zwischen 200 und 400 Jahre alt sind. Die Bäume werden nur im Winter geschlagen. Weil das ganze Jahr über Holz gebraucht wird, wird es ab dem Frühjahr gewässert.

Die bauphysikalischen Eigenschaften von Holzschindeln sind eindrücklich. Sie schützen vor Kälte und Hitze und wirken feuchtigkeitsregulierend: Bei Regen dehnen sie sich an der Oberfläche aus und verschliessen die Schindelfläche. Bei trockener Witterung wölbt sich die Oberfläche, und es entsteht ein Belüftungsraum, durch den die Feuchtigkeit wieder abgegeben wird.

Wie vor 100 Jahren

Das Schindelmachen ist eine an sich einfache und repetitive Arbeit. Zuerst wird der Stamm in Trämel der gewünschten Länge gesägt. Das Holzscheit wird mit Schlegel und Messer in zwei gleiche Teile gespalten, und dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis man Schindeln erhält. Die Dicken variieren dabei zwischen zwei und zehn Millimetern, je nachdem, wo die Schindel eingesetzt wird. Im Entlebuch werden Schindeln sowohl maschinell als auch von Hand fabriziert. Bei handgespaltenen Schindeln wird das Holz in der Faserrichtung getrennt, die Fasern bleiben unverletzt und die Holzoberfläche besonders beständig. Je nach Holzart ist eine Lebensdauer von 50 Jahren, bei Lärchenholz sogar von 100 Jahren realistisch. Handgespaltene Schindeln sind rechteckig. Rundschindeln werden maschinell gemessert und gestanzt.

Die fertigen Schindeln werden zu Bündeln zusammengefügt, sodass das ursprüngliche Scheit wieder rekonstruiert wird. Das ist wichtig, weil die Schindeln stets in derselben Richtung gedeckt werden müssen. Die Rundschindeln werden zu grösseren Elementen zusammengenäht, damit sie später schneller montiert werden können.

Vom Meister zum Lehrling

In der Werkstatt der Josef Bucher AG lässt sich hundert Jahre Industriegeschichte erleben: Die Spaltmaschine stammt noch aus dem vorletzten Jahrhundert, die Stanzmaschine hat ein Mitarbeiter gar selber konstruiert, und genäht wird auf Nähmaschinen, die zuvor in der Sattlerei für Militärtaschen eingesetzt worden waren. Das Handwerk ist dasselbe geblieben. Für die Schindelmacherei gibt es keine institutionalisierte Ausbildung. Das Wissen wird vom Meister an seine Lernenden weitergegeben. Rund ein halbes Jahr dauere es, bis ein Lehrling die Technik beherrsche. Danach müsse die Leistung ausgebaut werden. 200 bis 300 Schindeln pro Stunde entsprächen einem guten Ausstoss, sagt Bucher.

Daneben spielte das Kind

Eva Gredig arbeitet seit 16 Jahren als Schindelmacherin. Die gelernte Schreinerin lebt in Thalkirch, einem Weiler im hinteren Teil des Safientals im Bündnerland. Als ihre erste Tochter zur Welt kam, wollte sie weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, ohne aber das Kleinkind abgeben zu müssen. Bei einer Anstellung in einer Schreinerei unten im Tal wäre das unabdingbar gewesen. Zur selben Zeit wurde vom Verein Safier Ställe die Schindelwerkstatt gegründet. Ziel des Projektes war, sowohl das alte Handwerk als auch die Safier Ställe als Wahrzeichen in der Landschaft zu bewahren. Institutionen unterstützen das Projekt, damit die lokalen Bauern die Dächer kostengünstig sanieren können. Eva Gredig wurde damals angefragt, ob sie als Hölzige in der Werkstatt mitwirken möchte. Beim Schindelmacher Jakob Gartmann hat sie das alte Handwerk erlernt, und sie betreibt mit ihm die Schindelwerkstatt. Sie nahm ihre damals dreijährige Tochter in die Werkstatt mit, und diese spielte – von jeglichen Maschinen oder Geräten ungefährdet – in ihrer Nähe. Rund 30 Stunden in der Woche spaltet Gredig Schindeln. Immer von Hand. Arbeiten könne sie dann, wenn es passe, und das Soll erfülle sie damit gut. «Beim Schindeln muss man sich auf das Material konzentrieren. Jedes Stück Holz ist anders beschaffen, und das Beste daraus zu machen, möglichst Ausschuss vermeiden, das spornt mich an», erklärt Gredig. «Es macht mich glücklich, wenn sich ein Holz gut spalten lässt.»

Ein «Gspüri» fürs Handwerk

Freude am Tun verbindet Schindelmacher im Safiental und im Entlebuch. Wenn Hansjörg Bucher vom Handwerk erzählt, erwähnt er das «Gspüri», das seine Schindelmacher für das Holz haben, und den Respekt vor dem Werkstoff Holz. «Wenn wir einen 425-jährigen Lärchenstamm spalten, dann ist das für uns ein emotionaler Moment.» In Buchers Eigenheim sind Schindeln nicht nur an der Fassade zu finden, sondern auch in den Innenräumen, wo er an zwei Wänden Schindeln als Gestaltungselement einsetzt. Im Innenausbau werden Schindeln erst entdeckt. Hier sieht Bucher noch Potenzial, gerade auch für Schreiner.

Zugang zu einem neuen Markt hat auch Zimmermann Martin Kälin gefunden. Für ihn hat es sich gelohnt, dass er beim Bau des Raiffeisengebäudes das alte Handwerk vom Schindeldecker erlernt hat. Seine Zimmerleute konnten in der Zwischenzeit eine grosse Überbauung in Meggen, einen Anbau in Einsiedeln und ein altes Bauernhaus in Feusisberg schindeln, und nächste Projekte seien bereits in Planung.

www.bucherholz.chwww.mondphasenholz.chwww.holzschindeln.chwww.safierstaelle.chwww.romanhutter.ch

ho

Veröffentlichung: 14. Mai 2020 / Ausgabe 20/2020

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