Passion für eine uralte Profession

Eine Beschäftigte der Brühlgut Stiftung Winterthur flicht eine sich verjüngende Stuhllehne. Hier zahlt sich jahrzehntelange Erfahrung aus. Bild: Stefan Hilzinger

Geflechte.  Kunststoffen und industrieller Fertigung zum Trotz: Das traditionelle Flechthandwerk bewahrt sich eine Nische im Möbelbau und bei der Gestaltung von Innen- und Aussenräumen. Seine Trümpfe sind Natürlichkeit, Nachhaltigkeit und Individualität.

Flechten ist eine sehr alte, wenn nicht gar die älteste Kulturtechnik der Menschheit. Ab der Mittelsteinzeit, so weiss Wikipedia, nutzten Menschen in Europa geflochtene Gefässe etwa als Reusen, um Fische zu fangen, oder sie setzten sich aus grobem Pflanzenbast geflochtene Hüte zum Schutz gegen die Sonne aus. Vom Gletschermenschen Ötzi, der vor rund 5300 Jahren in den Alpen zu Tode kam, weiss man, dass er Schuhwerk trug, das ein Geflecht aus gedrehtem Lindenbast enthielt.

Und noch immer gibt es Menschen, die diesem uralten Handwerk die Stange halten. So auch in der Schweiz, wo sich die Interessengemeinschaft Korbflechterei (IGK) als Berufsverband um den Fortbestand der Profession kümmert. Um heute vom Flechten leben zu können, braucht es eine fundierte Berufsausbildung. Verschiedene Flechttechniken müssen in Bereichen der Innenarchitektur, Möbeldesign, Gartengestaltung und so weiter angewendet werden können. Die Berufsausbildung «Korb- und Flechtwerkgestalter/in EFZ» dauert drei Jahre (siehe Kasten).

Hohe Nachfrage nach Stuhlgeflechten

Gewissermassen ihren Lebensunterhalt mit Flechten bestreiten die Beschäftigten des Flechtateliers der Brühlgut Stiftung in Winterthur ZH. Das stimmt zugegebenermassen nur bedingt, da ein Teil der Entlöhnung von der Invalidenversicherung stammt. Das macht ihre Arbeit nicht weniger wichtig und wertvoll. Wer dort etwa die Sitzfläche eines Wiener Kaffeehausstuhles oder eines dänischen Carl-Hansen-Modells ersetzt haben will, muss gewisse Wartezeiten in Kauf nehmen. «Wir spüren ein steigendes Interesse, ältere Möbelstücke reparieren zu lassen», sagt Stefan Egli, Gruppenleiter der Stuhlflechterei. Nebst der zunehmenden Nachfrage ist die Wartezeit auch der kleiner werdenden Zahl der Werkstätten geschuldet, die Stuhlflechterei anbieten. Noch gibt es aber vergleichbare Einrichtungen, wie die Brühlgut Stiftung und auch Strafanstalten mit Stuhlflechtereien. «Ausserdem verspüren auch wir geschützten Werkstätten den Fachkräftemangel», erklärt der gelernte Bootsbauer Egli. «Es kommt vor, dass wir Leute an den ersten Arbeitsmarkt verlieren.» Was auch etwas Gutes an sich habe.

Wer ein Wiener Geflecht flicht, muss den Kopf bei der Sache haben und sich lange auf eine vergleichsweise gleichförmige Arbeit konzentrieren können. Sechs Durchgänge sind nötig, bis die Sitzfläche mit den typischen achteckigen Löchern fertig ist: zwei waagrechte, zwei senkrechte und zwei diagonale. Traditionell arbeiten die Flechterinnen und Flechter mit Rattan, der dünnen, zähen Schale der Rattan- oder Rotangpalme. Damit es bei der Arbeit weniger bricht, wird das Material regelmässig leicht befeuchtet. «Es gibt auch maschinell gefertigte Geflechte ab Rolle, doch die setzen wir nur selten ein», sagt Egli.

Jeder Stuhl hat seine Persönlichkeit

Rattan wächst als Kletterpflanze in Südostasien. Nebst der Schale (dem Bast) findet auch das Mark als eigentliches Peddigrohr Verwendung in Flechtarbeiten. Das Rohmaterial in unterschiedlichen Aufbereitungen stammt häufig aus Indonesien. «Doch Qualität und Verfügbarkeit sind zusehends ein Problem», sagt Egli. Er kann sich zwar auf Lieferanten wie die Firmen Hans Ender aus Hochstadt (D) oder Peddig Keel aus Degersheim SG verlassen. Als Alternative kommt für Wiener Geflechte dennoch auch sogenanntes Cottonband zum Einsatz, ein verstärktes Baumwollband, das es auch schon seit den 1930er-Jahren gibt. Je nach Stuhlmodell flechten die Beschäftigten auch mit Papierkordeln oder mit Binsen. «Jeder Stuhl hat seine eigene Persönlichkeit», sagt Egli. Diese soll auch nach einer Reparatur oder Restaurierung erhalten bleiben. «Manchmal kommen Kunden zu uns, die wollen das ganze Holz abgeschliffen haben. Davon rate ich in der Regel ab», sagt er. Denn das würde den Charakter des Möbelstückes zerstören. «Ich habe grössten Respekt von dem, was unsere Vorfahren damals handwerklich konnten», sagt Egli.

Wenig Werkzeug, viel Freiheit

Szenenwechsel: Spielplatz Blumenau in Triesen im Fürstentum Lichtenstein. Der Föhn bläst so stark, dass das Werbebanner der Flechtgruppe Salix über den Platz geweht wird. Pepito Zwahlen fängt es ein. 1999 gründeten er, Toni Bucheli und Bernard Verdet die Flechtgruppe als Einfache Gesellschaft, um grössere Aufträge annehmen zu können. Salix ist der lateinische Begriff für Weide. Alle drei sind gelernte Korbflechter. Zwahlen wohnt in Grabs SG gleich ennet des Rheins, Bucheli in Langenthal BE und Verdet in Lavin im Engadin. Auf dem Spielplatz pflegen sie den Weidentunnel, den sie 2017 gepflanzt haben. Sie schneiden überständige Triebe und bringen die Ruten in die gewünschte Form. «Bisher mussten wir immer zusätzliche Ruten schneiden, nun liefert der wachsende Tunnel genug Rohmaterial, das wir gleich an Ort und Stelle verwenden können», sagt Zwahlen. Leider schliesst sich der Tunnel auf der Ostseite nicht wie gewünscht. «Die Weiden bekommen auf dieser Seite zu wenig Licht», sagt Zwahlen, der auch Vorstandsmitglied der IGK ist. «Unser Beruf ist wohl das einzige Handwerk, das praktisch ohne Werkzeug und Maschinen auskommt», sagt er. Zur Pflege des Weidentunnels benötigen sie Korbmacherschere, Messer und Fuchsschwanz sowie Leitern, um in der Höhe arbeiten zu können. Ausserdem ist da noch ein Eisen, um bei Bedarf einen Weidentrieb in den Boden zu stecken.

«Das Berufsbild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark geöffnet, von der reinen Fertigung von Gebrauchsgegenständen hin zu gestalterischen Projekten in der Garten- und Landschaftsarchitektur», sagt Zwahlen. Von der Flechtgruppe Salix finden sich in der Schweiz mehrere Werke, so zum Beispiel im Reussdelta bei Seedorf UR, wo sie Geländer und Brüstungen des Aussichtsturms und die Wände eines Beobachtungsstandes für Vögel gemeinschaftlich geflochten haben. Für ihre Weideninstallation «Mouvement» erhielt die Gruppe 2002 gar einen Kulturförderpreis der Stadt Langenthal.

Faszination für das Ursprüngliche

Zwischen Handwerk und Kunst bewegt sich auch Nadine Meier. «Meine Werkstatt stelle ich für jeden Auftrag wieder neu zusammen», sagt die Flechtwerkgestalterin aus Emmenbrücke LU. Jeder Tag sei anders und jede Arbeit einzigartig, deshalb habe sie letztlich diesen Beruf ergriffen. «Wer flicht, lernt viel über natürliche Materialien und deren Verbindungen und entwickelt dabei auch eine gute räumliche Vorstellungskraft. Jeder Korb ist wieder anders, auch wenn die Arbeit daran sich gleicht», sagt sie.

Meier arbeitet selbstständig. So hat sie für die Schreinerei Spicher aus Brugg AG farbige Möbelfronten mit einem Geflecht aus Baumwollkordeln versehen. «Die Schreinerei legt regelmässig Sondereditionen auf, und ich hatte freie Hand in der Gestaltung», sagt Meier. Derzeit ist sie daran, für einen Bekannten eine Lampe samt Schirm zu entwickeln. Möglicherweise wird daraus sogar ein eigenständiges, marktreifes Produkt.

Gemeinsam zu Lösungen

Der Weg in die Selbstständigkeit als Flechtwerkgestalterin war nicht einfach. «Zunächst machte ich vier Jahre lang einfach alles, was gerade kam.» Dann liess sie sich zur Berufsschullehrerin ausbilden und arbeitete bis vor einem Jahr Teilzeit als Lehrerin an der Bildhauerschule in Brienz. Aktuell ist sie in einem Teilzeit-Pensum in einer psychiatrischen Tagesklinik in der Rehabilitation tätig und unterstützt Menschen darin, den Weg in den ersten Arbeitsmarkt wieder zu finden. «Es ist ein Privileg, die eigene Passion im Beruf ausleben zu können sagt», sagt sie. Meier sucht das Besondere. Sie arbeitet häufig mit Architektinnen oder Designern zusammen. Beziehungen sind ihr sehr wichtig, etwa zum Team von Flechtart aus Affoltern am Albis, das sie jeweils an der Giardina unterstützt.

«Weil wir Flechtwerkgestalterinnen Dinge entwickeln und anbieten können, die keine Maschine kann und die sehr individuell sind, sind manche dann bereit, unseren Aufwand ansprechend zu entschädigen.» Und fügt an: «Auch Beziehungen sind wichtige Geflechte im Leben.»

www.brühlgut.chwww.flechtgruppe-salix.chwww.dieversitaet.chwww.hans-ender.dewww.peddig-keel.ch

Tatami-Matten neu interpretiert

Ein geflochtenes Material mit einer langen Tradition sind die Tatami-Matten in Japan, die Fussböden auskleiden sowie die Wettkampf- und Trainingsstätten für Kampfsportarten wie Judo. Die Matten bestehen aus einem festgebundenen Kern aus Reisstroh, worauf eine Lage aus geflochtenen Flatterbinsen befestigt wird. Tatami-Matten sind nach japanischer Tradition je nach Region zwischen 170 und 191 cm lang und zwischen 85 und 96 cm breit. (Verhältnis 2 :1). Moderne Tatami gibt es aber in allen möglichen Formaten und auch in verschiedenen Einfärbungen. Um die Oberfläche des Geflechts zu schonen, werden Tatami nur in Socken oder barfuss betreten. In den Kollektionen des japanischen Möbelherstellers Adal etwa spielen geflochtene Matten aus Binsen und Reisstroh eine zentrale Rolle, wobei die Matten nicht nur als Bodenbelag, sondern auch an Wänden, auf Sitzflächen etc. zum Einsatz kommen.

Gefährdete Tradition

Wie das Unternehmen auf ihrer Website schreibt, sei der seit mehr als 1500 Jahren bestehende gewerbliche Anbau der Flatterbinsen in Japan in den letzten 30 Jahren auf weniger als einen Zehntel des früheren Niveaus geschrumpft. Als Grund gibt der Möbelbauer an, dass vermehrt Kunststoffe und importierte Binsen verwendet werden. Mit seiner Luxuskollektion «Look into Nature» will er dem negativen Trend entgegenhalten und Absatzmärkte weltweit erschliessen. Das Unter- nehmen aus Fukuoka ist vom kommenden 8. bis 13. April erneut am Salone del Mobile in Mailand vertreten.

www.adal.co.jp/lookintonature/en

INTERESSENGEMEINSCHAFT KORBFLECHTEREI SCHWEIZ

Ein seltener, aber lebendiger Beruf

Die Interessengemeinschaft Korbflechterei (IGK) ist der Berufsverband des Schweizer Flechthandwerks. Die IGK wurde im Jahre 1989 gegründet mit dem Ziel der Förderung der Korbflechterei. Derzeit bestehen in der Schweiz drei Lehrverhältnisse für den Beruf «Korb- und Flechtwerkgestalter/in EFZ» in noch zwei Lehrbetrieben. Die IGK mit Sitz in Brienz BE ist Mitglied der Interessengemeinschaft Kunsthandwerk Holz (IGKH), die nebst dem Flechthandwerk auch die Interessen der Berufe Holzbildhauerei, Drechslerei und Küferei sowie Weissküferei vertritt. Die IGK steht auch Mitgliedern offen, die ihre Fähigkeiten autodidaktisch erworben haben, ausserdem bietet die IGK Kurse rund um das Flechthandwerk an. In Thun führen die Berufsleute Therese Leutwyler und Werner Turtschi nebst ihren Ateliers auch ein Flechtmuseum, das von April bis Oktober jeweils am vierten Wochenende geöffnet ist, erstmals am 26. und 27. April. Dieses Jahr zeigt die Sonderausstellung «Was die Damen ziert» geflochtene Accessoires. Das Museum ist auf telefonische Vereinbarung auch an anderen Tagen zugänglich.

www.korbflechten.chwww.kunsthandwerk-holz.chwww.flechtereien.ch

Stefan Hilzinger, hil, hil

Veröffentlichung: 27. März 2025 / Ausgabe 13/2025

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