Mit 83 Jahren am Rad der Zeit

Heinrich Lang ist auch mit 83 Jahren noch täglich in seiner Werkstatt in Kreuzlingen anzutreffen.

Im Militär-«Übergwändli» steht er in seiner grossen Werkstatt: Heinrich Lang, klein, rundlich, freundlich, blaue Augen, graue Haare. «Die letzten ‹Gwändli› erstand ich noch für zehn Franken. Ungebraucht, ladenneu, die halten ewig», freut sich der 83-Jährige. Seine Geschichte kreist irgendwo zwischen Motorrädern, Autos, Leitern, Karosseriewerkstätte, Kutschen, Abschlepp- und Pannendienst und Rädern – Holzrädern natürlich, denn auch mit 83 Jahren ist Heinrich Lang der Wagner schlechthin.

Seine Werkstatt im thurgauischen Kreuzlingen ist so gross wie eine 4-Zimmer-Wohnung; Maschinen und Werkbänke schauen aus, als seien sie seit Generationen in Gebrauch. Im Raum liegen an diesem Morgen zwei neue Holzspeichenräder. An den Wänden hängen alte Sägen, Feilen, Hobel und Hanfseile. Es herrscht ein Holzspäne-und-Karrenschmiere-Charme.

Heinrich Lang machte im väterlichen Betrieb 1943 eine Wagnerlehre. Nach der Militär-Motorfahrer-RS arbeitete Lang in der lokalen Motorwagenfabrik Mowag und später bei Adolph Saurer in Arbon. Im Jahr 1952, gerade 24-jährig, kehrte er wieder ins elterliche Geschäft zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Vater und Sohn Lang aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, etwas anderes zu machen. Die Aufträge für Kutschen, Schlitten, Leitern, Holzräder und Viehwagen gingen massiv zurück. «In den 50er-Jahren gab es 50 Franken für ein Holzrad. Das musste in einem Tag fertig sein, sonst war der Profit am Arsch», schildert Lang ohne schön gedrechselte Worte. Die Existenz war bedroht, und da kamen den Langs die Aufträge der Armee gerade recht, ihre Lastwagenkabinen neu aufzumöbeln. «Die verfaulten Saurer-Kabinen waren ein gutes Geschäft. Vor allem bei alten Mannschaftswagen war noch viel aus Holz», erinnert sich Heinrich Lang. Bald gehörten auch Reparaturen von Unfallwagen aller Marken zum Angebot. Deshalb richtete Lang in den 60er-Jahren neben seiner Wagnerei auch noch eine Autokarosseriewerkstätte mit Abschlepp- und Pannendienst ein. Eine Marktnische war gefunden und die neue Arbeit an den Autos und Motoren gefiel Lang auch. Heute, weitere fast 60 Jahre später, betätigt sich der rüstige Rentner mit viel Herzblut und handwerklichem Geschick wieder (oder immer noch) als Wagner und repariert landwirtschaftliche Geräte. Erst kürzlich baute er einen grossen Anhänger aus Holz.

Die Werkstattuhr zeigt bald zwölf. Am Nachmittag möchte Heinrich Lang die beiden grossen Holzräder mit Eisenreifen bestücken. Bei jedem Handgriff ist Langs grosses Detailwissen spür- und sichtbar. Es sind Kenntnisse und Fertigkeiten, die sich in einer über 120-jährigen Geschichte des Familienunternehmens angesammelt haben und die mit der Schliessung des Betriebs unwiderruflich verloren gehen werden. «Ich konnte es meinem Neffen nicht empfehlen, hier einzusteigen», erzählt Lang mit einem Lächeln, das viele Interpretationen zulässt – auch Wehmut. Umso mehr freut sich der rüstige Senior, wenn er von den Aktivitäten der modernen Wagner- und Skibauer-Betriebe vom Samstag, 16. Juni 2012, auf dem Ballenberg hört. Dieses Metier, das merkt man Heinrich Lang an, hält ihn «jung» und auf Trab!

«In den 50er-Jahren gab es rund 50 Franken für ein Holzrad. Das musste in einem Tag fertig sein, sonst war der Profit am Arsch.»

UOK

Veröffentlichung: 14. Juni 2012 / Ausgabe 24/2012

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