Handwerk braucht Selbstbewusstsein

Sprachrohr und Brückenbauer: Der Innenarchitekt Philipp Kuntze kämpft für eine gesellschaftliche Wertschätzung hand-werklicher Traditionen. Bild: QnʼC Philipp Kuntze

Interview.  Viele Handwerksberufe sterben aus oder sind nur noch unzureichend vertreten. Das habe fatale Folgen für Produktinnovationen, sagt Philipp Kuntze. Der Innenarchitekt hat mit World Crafts eine Organisation zur weltweiten Stärkung des Handwerks ins Leben gerufen.

Schreinerzeitung: Warum setzen Sie sich als Innenarchitekt so stark fürs Handwerk ein?

Philipp Kuntze: Seit jeher begeistern mich Materialien. Schon in der Lehre als Hochbauzeichner nahm ich nach Baustellenbesichtigungen Säcke voll Holz, Metall, Glas, Textilien und auch Leder mit. Sie erzählen eine Geschichte über ihre Herstellung, und die hängt meistens mit einem Handwerk zusammen. Leider verschwinden durch Zeit- und Kostendruck viele Herstellungsverfahren und mit ihnen die Materialvielfalt. Vieles sieht gleich aus, weil nur noch industriell hergestellte Silikatverputze, Kunstharzoberflächen und Schaumteileformen eingesetzt werden. Ich vermisse wie viele Berufskollegen die Vielfältigkeit guten Handwerks. Dessen allmähliches Verschwinden hat auch riesige Auswirkungen auf unsere Kultur, die Diversität, Innovationen und die internationale Wirtschaft.

Ist es nicht so, dass bestimmte Handwerke durch die Industrialisierung sukzessive obsolet werden?
Das sehe ich anders. Wir sind auf Innovationen und eine Materialvielfalt angewiesen. Beides können wir im Handwerk finden, wie die Geschichte zeigt. Früher erlernten die Gesellen auf der Wanderschaft neue Techniken, kamen mit anderen Handwerkern in Kontakt. Zurück in der Heimat, entstanden Neu- und Weiterentwicklungen. Ich behaupte, dass es heutzutage ohne handwerkliche Praxis keine Materialinnovation geben kann.
Ohne dieses Wissen haben wir eine schlechte Zukunft. Denken Sie an die Erdölressourcen, welche für die Herstellung von Kunststoffen benötigt werden. Es braucht ökologische Alternativen. Diese können wir im Handwerk finden.
An welche Materialinnovationen denken Sie?
Zum Beispiel das Thema Flachs: Jahrhundertelang wurde in Europa Flachs angepflanzt und zu Garn verarbeitet. Mit der Baumwollproduktion rückte der Flachs immer mehr in den Hintergrund, heutzutage verarbeiten nur noch einige Kleinbetriebe dieses sehr spannende Material. So hat ein Schweizer Start-up aus Emmentaler Flachs ein Textil weben lassen und dieses in Biokomposit (basierend auf Nussschalen und Altpapier) giessen lassen. Das Resultat ist ein Material mit Eigenschaften von Carbon. Die Formteile werden heutzutage bereits in der Autoindustrie eingesetzt.
Das ist aber nur ein Beispiel von vielen. Nehmen Sie die Textilbranche, sie ist dominiert von Baumwolle, Seide, Kunstfasern und Wolle. Weltweit gibt es aber mehr als 250 verschiedene Fasern, doch die traditionelle Verarbeitung ist entweder verloren oder wird nicht entwickelt. Handwerk braucht Innovation. Nach meinem Verständnis ist es ein kreativer Zulieferer der Industrie.
An Innovation ist in vielen Schreinereien angesichts des Zeit- und Kostendrucks kaum zu denken.
Das ist ein beliebtes Argument und stimmt in Teilen. Aber es ist auch eine Frage der Wertschätzung. Wir fragen immer nach dem Preis, aber nicht nach dem Wert einer handwerklichen Arbeit. Und umgekehrt: Ist sich der Schreiner seiner besonderen Qualifikation und der damit verbundenen Innovationskraft bewusst? Er hat ein grosses Know-how. Leider wurde aber viel Wissen generalisiert und zu wenig spezialisiert. Massivholzverarbeiter brauchen ein anderes Know-how als Belegs- oder Furnierspezialisten. Der Schreiner deckt so viele Bereiche ab, dass die Gefahr besteht, Handwerkstechniken zu verlieren.
Was raten Sie dem Schreiner?

Es braucht immer auch Mut, neue Ideen zu entwickeln. Und es ist wichtig, dass sich die Schreiner wieder auf ihre viefältigen Materialkenntnisse und Handwerkstraditionen besinnen. Ich denke zum Beispiel an das Wandtäfer, über Jahrhunderte eine spannende Form der Wandgestaltung, die kampflos aufgegeben wurde. Solche Kompetenzen hat die Industrie nicht, und ich bin mir sicher, dass eine Nachfrage besteht. Man muss als Handwerker auch Bedürfnisse wecken.

Mut ist eine Sache – die Rentabilität einer guten Idee eine andere.

Mut und eine gute Idee machen freilich noch nicht den wirtschaftlichen Erfolg. Und der Markt ist eine schwer zu kalkulierende Grösse. Ich sehe noch Unterstützungsbedarf an anderer Stelle: Die Verbände sind gefragt, die handwerklichen Besonderheiten der Berufe zu stärken.

Handwerker und Architekten müssen Gespräche auf gleicher Augenhöhe führen. Oft erlebe ich leider das Gegenteil: Der Spezialist sagt seine Meinung nicht, oder er wird nicht gehört. Es kommt zu Fehlplanungen, das ist die eine Seite. Andererseits verschwinden durch die dauernde Entwertung des Handwerks bestimmte Berufe.

Wo fehlt es schon jetzt konkret an Nachwuchskräften?

Simon Oehrli aus Lauenen ist vermutlich der letzte klassisch ausgebildete Wagner der Schweiz. Aufgrund seiner berufsspezifischen Kenntnisse in Sachen Holz- und Metall hat er einen Sattelstamm für Pferdesättel entwickelt, der auf der CNC-gesteuerten Anlage gefräst wird. Jedes Modell kann individuell auf das jeweilige Pferd angepasst werden. Leider findet er aber kaum qualifizierten Nachwuchs für die Fertigung. Oder nehmen Sie die 4 bis 5 Schindelmacher hierzulande: Sollten Sie mehrere grössere Fassaden erstellen wollen, bräuchte es wahrscheinlich viele Jahre. In Vorarlberg fördert der Staat das Berufsbild.

Welche Rolle spielt die Politik?

Wir haben weltweit ein Überangebot an Hochschulabgängern, auch die europäische Politik forciert den akademischen Nachwuchs. Gleichzeitig herrscht in bestimmten Regionen der Welt und Europas eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Das heisst die Hälfte der Jugendlichen dort hat keine Zukunftsperspektiven mehr. Und gleichzeitig mangelt es an qualifizierten Handwerkern. In der Schweiz sind wir mit unserem dualen Ausbildungssystem noch sehr gut bedient. Und ich will der Politik auch nicht allein die Verantwortung in die Schuhe schieben. Es liegt an jedem Einzelnen, der dauernden Entwertung des Handwerks entgegenzuwirken.

Was kann jeder Einzelne fürs Handwerk tun?

Wenn Familienmitglieder stolz auf den Handwerksberuf von ihren Mädchen und Buben reagieren, wird sich der Wert des Handwerks automatisch steigern. Wir müssen das Handwerk wertschätzen. Zudem können wir das grosse Wissen unserer Vorfahren weiterentwickeln und anwenden. So haben wir künftig eine breite Diversität, z. B. an geräucherten, geölten, geseiften und lackierten Hölzern. Derart behandelte Oberflächen haben einen eigenständigen Charakter und sind von dauerhaftem Wert.

Gibt es weltweite Bestrebungen zur Stärkung?

Die Notwendigkeit, das Handwerk nachhaltig zu stärken, ist nur in einzelnen Ländern erkannt. Es gibt wenige, auch globale Aktivitäten. Ein Beispiel ist die Crafts Biennale in Südkorea, auf der Vertreter aus 60 Ländern ihre Handwerke zeigen. Auch die Schweiz ist aus privater Initiative mit einem Pavillon dabei. Unterstützung ist hier dringend nötig. Wir erwarten eine halbe Million Besucher.

www.world-crafts.orgwww.wagnerei-oehrli.chwww.pavilion-swiss.orgwww.cheongjubiennale.or.kr

Weltweites Engagement

Mission Handwerk

Philipp Kuntze ist Innenarchitekt und Inhaber der Agentur QnʼC, mit welcher er handwerkliche Unternehmen in Marketing und Vertrieb berät. Im Januar 2016 gründete er die Organisation World Crafts. Sein Anliegen ist die Förderung und Erhaltung des internationalen Handwerks. Kuntze organisiert regelmässig Gesprächsrunden und Expeditionen. Für den Schweizer Pavillon an der Crafts Biennale in Südkorea wirkt er als Co-Kurator.

www.qnc.ch

MZ

Veröffentlichung: 18. Mai 2017 / Ausgabe 20/2017

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