Einmal Haus, aber klein bitte
Eines der vier Tiny Houses, die seit Anfang Jahr in Gais AR stehen. Pro Haus lasten rund10 Tonnen Material auf den Betonpfeilern. Bild: Sven Bürki
Eines der vier Tiny Houses, die seit Anfang Jahr in Gais AR stehen. Pro Haus lasten rund10 Tonnen Material auf den Betonpfeilern. Bild: Sven Bürki
Tiny House. Wohnen auf 25,5 Quadratmetern? Was für eingefleischte Camper luxuriös klingt, löst bei Personen mit Haus oder Wohnung wohl beengende Gefühle aus. Wie Wohnen auf kleinem Raum aussehen kann, zeigt eine Tiny-House-Siedlung in Gais AR.
Wohnen ist der grösste Ausgabeposten in der Haushaltskasse von Herr und Frau Schweizer. Dabei leben wir auch gerne auf grossem Fuss, oder besser gesagt auf gros-sem Wohnraum. Laut dem Bundesamt für Statistik belief sich die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf im Jahr 2021 auf 46,6 Quadratmeter. Auch während der Coronazeit kam wohl bei vielen der Wunsch auf, in den eigenen vier Wänden etwas mehr Platz zu haben.
Nicht so bei Theo Graf aus Gais AR. Denn seit Anfang dieses Jahres lebt der Pensionär zusammen mit seiner Frau Mirjam in einem Tiny House auf 25,5 Quadratmetern Wohnfläche. Mit dem Umzug haben die beiden die Fläche ihres Wohnraumes um den Faktor 5,5 verkleinert.
Dass ein solcher Entschluss nicht von heute auf morgen gefasst wird, liegt auf der Hand. Erstmals damit auseinandergesetzt hat sich Theo Graf 2018 nach dem Lesen eines Sonderberichtes des Weltklimarates, wonach jeder Quadratmeter Wohnfläche auch zum CO2-Fussabdruck beiträgt.
«Wir sind keine Aussteiger oder Moralapostel, was das Klima angeht», sagt Graf. «Aber wir machen uns schon Gedanken, wie wir unseren Fussabdruck verkleinern können.» Deshalb haben die beiden lange darüber gesprochen, wie ihre neue Wohnsituation aussehen könnte. Als die beiden auf das Siedlungsprojekt mit den Tiny Houses stiessen, war der Entschluss gefasst, eines der Häuschen zu kaufen.
Hinter der Siedlung in Gais stehen zwei Unternehmen aus dem Dorf. Das Konzept und die Planung stammten von Architekt Robert Kochgruber. Er lebt ebenfalls in dem Appenzeller Dorf und hat für das Projekt mit dem einheimischen Holzbauer Matthias Mösli zusammengearbeitet. Mösli stellte auch das Bauland für die Siedlung zur Verfügung und trat als Totalunternehmer auf.
Zwar war für beide das Konzept eines Tiny House Neuland, doch wie Kochgruber sagt, unterscheiden sich seine Häuschen nicht so sehr von normal grossen.
So wurden die Gebäudehüllen in der Ständerbauweise erstellt und mit Holzfaserdämmung gedämmt. Eine Rhomboiden-Schalung mit 24 Millimeter dicken Fichten-Lamellen sorgt für den Witterungsschutz. Das Holz dafür stammt aus der Schweiz. Auch die Holzfenster sind ein Schweizer Produkt. Das Spezielle daran: Die Fensterflügel lassen sich nach aussen kippen. Möglich machen dies sogenannte Friktionsscherenbänder, welche insbesondere in Grossbritannien oft verwendet werden.
Das Öffnungsprinzip ist für kleine Räume hervorragend geeignet, da der geöffnete Fensterflügel nicht in dem Raum steht. Zudem kann unten die kältere Luft einströmen und die warme Luft durch die Öffnung oben abziehen, was für ein angenehmes Raumklima sorgt.
Die Blumer Techno Fenster AG in Waldstatt AR hat die Fenster produziert. Bei der Entwicklung hat auch Theo Graf mitgewirkt. Er arbeitete früher selbst für Blumer und war zuvor Geschäftsführer der Graf Fenster AG, die Blumer 2017 übernommen hatte. Daher konnte er seine Erfahrung mit Spezialfenstern einbringen.
Damit sich die Bewohner und Bewohnerinnen trotz kleiner Fläche wohlfühlen, steckt in der Raumaufteilung viel Planung. «Besonders wichtig sind die Proportionen», sagt Kochgruber. «Die Grössenverhältnisse müssen immer stimmen.» Deshalb seien etwa die Türen in den Tiny Houses nur 65 Zentimeter breit. «Ansonsten sind wir uns ja 80 Zentimeter und mehr gewohnt. Im Verhältnis zur Raumgrösse wirkt die Türbreite jedoch normal», erklärt Kochgruber. Ein besonderes Augenmerk habe er auch auf die sogenannten Lichtachsen geworfen. So gelangt durch sich gegenüberliegende Fenster viel Licht in den Raum und lässt ihn grosszügig und freundlich wirken.
Auch wenn Kochgruber zuvor noch keine so kleinen Häuser entworfen hatte, so sammelte er doch schon einige Erfahrung, was das Wohnen auf kleinem Raum anbelangt.
«Die Idee zu den Tiny Houses hatte ich während eines Campingurlaubes», sagt Kochgruber. Zusammen mit seiner Frau war er rund drei Monate in einem Expeditionsmobil unterwegs. «Damals habe ich realisiert, dass es gar nicht so viel Platz braucht zum Wohnen.»
Im Innern von Kochgrubers Tiny Houses wird der vorhandene Platz möglichst optimal ausgenutzt. So haben Küche und Schränke keine herkömmlichen Sockel. Die Möbelfronten und Schubladen laufen bis 10 Millimeter auf den Boden. Beschläge und Detaillösungen kommen aus dem Camper- oder Bootsbau.
«Dahingehend musste ich das Rad nicht neu erfinden, hier gibt es alles schon», sagt Kochgruber. Er habe aber auch dort auf die Herkunft der Produkte geachtet. «Die Beschläge und alle Technikkomponenten kommen aus Europa», sagt er. Apropos Technik; diese ist unter dem Fussboden untergebracht. Jedes Tiny House verfügt über einen doppelten Boden mit rund 40 cm Platz dazwischen. Nebst Platz für Technik, Elektronik und Wasserversorgung bringt dies auch zusätzlichen Stauraum, der über Klappen zugänglich ist. Im Tiny House von Theo und Mirjam Graf sind die Bodenluken direkt vor der Küche bereits gefüllt. «Wir haben hier unsere Utensilien zum Brotbacken verstaut», sagt Graf. «Die Kiste ist schnell herausgenommen und wieder eingestellt.»
Im Prinzip könnten die Tiny Houses auch autark sein, wie Kochgruber sagt. Im Boden ist Platz für eine Minikläranlage, und auf dem Dach ist eine Solaranlage installiert. Allerdings sind die Häuschen an das Stromnetz und die Kanalisation angeschlossen. Dies schreibt die Schweizer Gesetzgebung vor. «Das Konzept Tiny House fällt komplett durch das Raster des Baureglements, welches nach wie vor hauptsächlich auf grosse Bauten ausgerichtet ist», sagt Kochgruber.
So nahm der Bau der Häuschen nur ein Bruchteil der Bewilligungsphase ein. Bei ähnlichen Projekten an anderen Standorten sei es dieselbe Situation. Die Auflagen stünden oft in keinem Verhältnis zur Projektgrösse. Trotzdem habe er zurzeit viele Anfragen von Leuten mit Bauland, die ebenfalls gerne eine Tiny-House-Siedlung realisieren würden.
«Natürlich freut mich die grosse Nachfrage», sagt Kochgruber. «Die ursprüngliche Idee war es allerdings, Restgrundstücke ausnutzen und so das Konzept des ‹Stöcklis› wieder aufleben zu lassen.» Für einzelne Bauten seien jedoch die Bewilligungskosten im Verhältnis einfach noch zu hoch.
Eines der vier Tiny Houses in Gais gehört nun Theo und Mirjam Graf. Für das 200 Quadratmeter grosse Grundstück zahlen sie eine monatliche Miete von rund 500 Franken. Falls die zwei irgendwann mal den Wunsch nach einem Tapetenwechsel verspüren, kann das Häuschen auch umgesiedelt werden.
«Mit einem Kran und Tieflader ist ein Umzug problemlos möglich», sagt Graf. Mit dem Kran wurden die Tiny Houses auch auf ihre Fundamente gehoben. Dazu wurden einzelne Betonpfeiler im Boden verankert. Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Haus wird der Boden somit nicht versiegelt und bietet weiterhin Lebensraum und sorgt für Biodiversität.
Momentan lebt sich das Ehepaar Graf in ihrem neuen Zuhause noch ein. Der Wechsel sei durchaus nicht zu unterschätzen. «Wir mussten uns von vielen Dingen lösen», sagt Graf. «Wir sind auch sehr gespannt, was die neue Wohnsituation mit unserer Beziehung macht.» Nach 40 Jahren Ehe sei wohl die Basis für ein solches Abenteuer gelegt.
Auch Robert Kochgruber weiss um die grosse Veränderung beim Umzug in ein Tiny House. Er empfehle allen Neubesitzern, nicht allzu euphorisch zu sein. «Am besten stellt man sein Hab und Gut erst mal ein und schaut, was noch benötigt wird, nachdem man sich an den neuen Lebensstil gewöhnt hat», sagt er. Kochgruber weiss, die Tiny-House-Besitzer und -Besitzerinnen sind ganz unterschiedliche Menschen. Alle verbindet jedoch ein Wunsch: den nach weniger materiellem Ballast. «Hier ist dann eben nicht weniger mehr, sondern weniger ist schlichtweg weniger.»
Veröffentlichung: 17. August 2023 / Ausgabe 33/2023
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