In einer Nussschale über den Atlantik

Das Foto mit ihm und seinen Cousins Georg, Sebastian und Peider Stocker erinnert Matthias Odermatt (24) an die 40-tägige Ruderfahrt über den Atlantik. Bild: Cornelia Thürlemann

Leute. Matthias Odermatt öffnet die Tür eines umgebauten Bauernhauses im Weiler Rüti oberhalb von Hägglingen AG.

Nach der Pensionierung seiner Eltern, die in Hunzenschwil eine Landmaschinenfirma führten, suchte die Familie ein neues Zuhause und ist vor zwei Jahren hierher gezogen. Odermatt ist in einer Grossfamilie aufgewachsen. Der 24-Jährige ist das jüngste von zehn Kindern. Er wohnt als Einziger noch bei seinen Eltern, aber seine Geschwister sind oft zu Besuch. In der gros-sen Wohnküche erzählt der gelernte Schreiner ruhig über ein aussergewöhnliches Abenteuer, das er über Weihnachten/Neujahr 2021/22 erlebt hat. Damals ruderte er mit drei Cousins im Team «Helvetic Waves» über den Atlantik, 5000 Kilometer weit. Nein, ein begeisterter Sportler sei er nicht. Zum Rudersport habe er vor dem Rennen keinen Bezug gehabt. Seine Cousins fragten ihn 2018, ob er mit ihnen an der «Atlantic Challenge» teilnehme. Das Ruderrennen gilt als das härteste der Welt. Es führt über den Atlantik von der Kanarischen Insel La Gomera nach Antigua in der Karibik. Odermatt hatte gerade seine Schreinerlehre begonnen – und sagte zu. Es war der Beginn einer dreijährigen Vorbereitung für das Team «Helvetic Waves». Das Rennen begann im Dezember 2021. Odermatt hatte seine Schreinerlehre abgeschlossen und die Rekrutenschule absolviert.

«Nach der Eintönigkeit und der Stille auf dem Meer blendeten uns bei der Ankunft die hellen, grellen Farben der Welt.»

«Der Schreinerberuf hat mir sehr geholfen. Wenn am Boot etwas kaputtging, konnte ich es mühelos flicken.» Die Teilnahme an der «Atlantic Challenge» bedeutete, zu viert 40 Tage auf einem kleinen Boot zu verbringen, Wind und Wetter ausgesetzt. Weihnachten auf dem Meer zu feiern. 40 Tage und Nächte in der Stille, umgeben vom Meer. Hie und da ein fliegender Fisch, Delfine, Haie, Orcas. Die Reise war minutiös geplant. Zwei Stunden rudern, zwei Stunden ausruhen, essen, schlafen, Hygiene, Reparaturen, nach Hause telefonieren. Dann zurück an den Ruderplatz. Der Tag war in ZweiStunden-Abschnitte unterteilt, klar getaktet. Rudern, ausruhen, rudern. Noch heute erzählen die vier Aargauer auf Einladung von Firmen von ihrem Abenteuer. Ein eindrücklicher Moment sei die Abfahrt in La Gomera gewesen, ein noch eindrücklicher die Ankunft in Antigua. Mitten in der Nacht seien sie angekommen. Die Marine habe sie in den Hafen eskortiert. Ein seltsames Gefühl, nicht zu wissen, wo man ist, von fremden Menschen umgeben zu sein, eine fremde Sprache zu hören. «Zuerst waren wir einfach froh, dass wir es geschafft hatten.» Dann die ersten Schritte auf dem Festland; sie seien gewankt wie Astronauten. Während der Reise hatte sich die Gehmuskulatur zurückgebildet. Nach der Eintönigkeit und der Stille auf dem Meer blendeten sie die hellen, grellen Farben, die Buntheit der Welt. Er musste sich an all dies erst wieder gewöhnen. Viel Zeit blieb ihm nicht in der Karibik. Er flog als Erster zurück in die Schweiz, um den Wachtmeister abzuverdienen. «Die Zeit auf dem Meer hat mir gezeigt, wie wenig man zum Leben braucht.»

Odermatt arbeitet heute als Monteur bei der Schreinerei R+S in Wohlen AG. Die Abwechslung, das Teilhaben an immer wieder neuen Projekten, das Arbeiten an verschiedenen Orten gefallen ihm. Er möchte noch einige Jahre Erfahrungen an der Basis sammeln, denn er liebt seinen Beruf. Beim Motorradfahren findet er seinen Ausgleich. Doch die Ruderfahrt über den Atlantik, die Erfahrung der Stille und das Wissen, gemeinsam etwas Grosses geschafft zu haben, ist ihm jeden Tag präsent.

Cornelia Thürleman

Veröffentlichung: 19. August 2024 / Ausgabe 33/2024

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