Der letzte Meister der Wandtafeln

Wie schon sein Grossvater liniert Adrian Heer (64)die Wandtafeln mit ruhiger Hand. Bild: Werner Lenzin

Leute. Der 64-jährige Adrian Heer füllt sorgfältig die graue RAL-Farbe, gemischt mit einem Härter, einem Verdünner und einem Farbhafter, in den Linierapparat ein.

Heer legt die abgegriffene Richtlatte seines Grossvaters nach bewährter Manier auf die Metalltafel. Konzentriert setzt er den Linierapparat an, und mittels Feingefühl im Druck überträgt das Rädchen die Farbe auf die Tafel, während Heer, ohne abzusetzen, von einem Ende der Wandtafel zum andern pfeilgerade Linien zieht. Doch bald wird für ihn Schluss sein mit dieser schon fast meditativen Arbeit. Denn diesen Herbst stellt die Heer Söhne AG in Märstetten ihren Betrieb ein, und die Produktion von Wandtafeln ist Geschichte. Adrian Heer hat das Linieren der Wandtafeln beim einstigen Mitarbeiter Hans Gubler gelernt. Auf einem Flügel mit Quadratur zieht er 69 Meter Linien. Die magnetische Tafelfläche bezeichnet Heer als eigentliche Revolution auf diesem Gebiet. «Seit ich 1990 in fünfter Generation von meinem Vater Emil Heer den Betrieb übernommenen habe, liefern wir Wandtafeln in die Schulen aller Regionen der Schweiz, obwohl meine Vorfahren diesen Produktionszweig als zweites Standbein und eher als Hobby aufgebaut hatten», fügt er an. Holz sei für ihn als gelernter Schreiner schon immer der schönste Werkstoff und Schreiner der schönste Beruf gewesen, erzählt er mit einem Strahlen im Gesicht. Als Schreinerei von seinem Urahnen im Jahr 1865 gegründet, nahm der Familienbetrieb ums Jahr 1930 die Herstellung von Wandtafeln auf. Seither sind Heer-Wandtafeln im Thurgau und weit darüber hinaus zu einem Begriff geworden.

«Auf dem Heimweg forderte mich mein Onkel auf, einige Züge aus seinem Stumpen zu nehmen, um den Geruch der Leiche zu vergessen.»

«Das Herstellen von modernen Schuleinrichtungen ist noch bis Ende Oktober die tägliche Arbeit», sagt Heer, doch ab dann wird der Betrieb mangels Nachfolge sukzessive eingestellt. Bis im Frühjahr gibt es noch einige kleinere Arbeiten abzuschliessen. «Das Ende unserer Ära ist für mich ein Mix zwischen Wehmut und Erleichterung, denn ich bin froh, in die Pension zu gehen und Verantwortung abzugeben.» Er freue sich auf mehr Zeit mit seiner Frau Vreni und auf Ausfahrten mit dem Motorrad. Gerne blicke er zurück auf die Leistungen seiner Vorfahren, die ihren Anfang in einer einfachen Kammer im Kehlhof nahmen, dem ehemaligen Zehntenhaus aus dem Jahre 1488. «Zu Beginn beschränkte man sich auf allgemeine Schreinerarbeiten, bevor man ab 1880 mit dem Herstellen von Schul- und Kirchenbänken begann.» Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Fabrikation von Särgen. In früheren Zeiten gehörte das Einsargen der Verstorbenen zur Aufgabe des Dorfschreiners. Heer berichtet: «Als 14-Jähriger musste ich mit meinem Onkel Ernst den verstorbenen Dorfschneider Traber einsargen. Erinnern kann ich mich auch noch an Hebamme Klara Borchert, die das Leichenhemd brachte. Auf dem Heimweg forderte mich mein Onkel auf, einige Züge aus seinem Stumpen zu nehmen, um den Geruch der Leiche zu vergessen.»

Im Sommer 1999 übernahm Adrian Heer das Präsidium der Bürgergemeinde Märstetten, der 140 ansässige Personen mit Ortsbürgerrecht angehören und die 90 Hektaren Wald und 24 Hektaren Kulturland verwaltet. «Als traditionsbewusster Mensch und von meiner Abstammung her bin ich ein Märstetter mit Herzblut», sagt er. Vorletztes Jahr hat Heer das Präsidium der Bürgergemeinde einem jüngeren Nachfolger übergeben, und er ist überzeugt: «Die Bürgergemeinde Märstetten mit ihrer Haupttradition, dem Hilarius-Bürgertrunk, wird Bestand haben.»

Werner Lenzin

Veröffentlichung: 16. September 2024 / Ausgabe 37/2024

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