Ein Weg zum hohen Sitzen

Bild: Horgenglarus

Werksentwurf.  Sitzgewohnheiten ändern sich. Das Beispiel von Horgenglarus zeigt, wie mit dem Wissen und Können der produzierenden Mitarbeiter ein erfolgreiches Stuhlmodell mit einem Barhocker ergänzt wurde. Dazu galt es, von Grund auf wirklich alles neu aufzubauen.

Handwerker sind idealerweise in selbst definierten Bereichen Spezialisten. Dort kennen sie sich aus, haben die grössten Fähigkeiten und haben auch ihre Werkstatt entsprechend eingerichtet. Die Familie der Schreiner hat als Gemeinsamkeit, dass jeweils für den Kunden etwas entworfen wird, was dessen Wunsch möglichst optimal erfüllt. Würde man aber jedes Mal auch Grundlegendes neu erfinden, könnte so ein Produkt kaum noch bezahlt werden. Die Planungsstunden wären zu umfangreich. Also erschafft jeder Betrieb in seinem Spezialgebiet Lösungen, mit denen Kundenwünsche rationell erfüllt werden können.

Eine andere Welt der Fertigung

Wer Küchen baut, kennt sich in der Regel gut mit der Verarbeitung von Platten aus, hat seine selbst aufgebaute Grundkonstruktion und kann somit die Statik der Kor- pusse richtig einschätzen. Sollte die gleiche Schreinerei ein Hochbett für Erwachsene aus Massivholz herstellen, dürfte das in den meisten Fällen zu Problemen führen. Wahrscheinlich könnte man es herstellen, wenn man nur wüsste, wie es konstruiert werden soll, damit es stabil und elegant wird.

Sehr viele Schreinereien bieten eigene Tische an, aber die wenigsten sind in der Lage, dazu einen guten Stuhl herzustellen. Das macht der Stuhlschreiner. Er verarbeitet kaum Platten, weniges ist im rechten Winkel, viele Teile sind krumm. Ohne Schablonenbau sind die Einzelteile dadurch oft selbst mit CNC-Fräsen nicht herstellbar.

Veränderungen und Konstanten

Ein Stuhl, der offenbar sehr gut konstruiert wurde bezüglich seiner optischen Erscheinung, des Sitzkomforts sowie der Stabilität, ist der «Classic 1-380» der AG Möbelfabrik Horgenglarus in Glarus. Seit nunmehr 100 Jahren ist dieses Modell in unzähligen Gastrolokalen, Veranstaltungshäusern und Privatwohnungen anzutreffen. Und noch immer scheint der Stuhlklassiker vielen Kundenwünschen zu entsprechen – ein Glücksfall für den Hersteller.

Der Stuhl wurde, wie die Firma, über all die Jahre den modernen Fabrikationsmethoden angepasst. So wird dort, wo dies rationeller ist, auf computergesteuerten Anlagen gearbeitet, konventionelle Abläufe wurden optimiert. Das Biegen der Sitzzarge aus einer dicken Massivholzleiste erinnert aber noch an damals. Für diesen Kraftakt mit frisch gedämpftem Holz braucht es eine Anzahl stabiler Metallschablonen, die sich nur lohnen, wenn auch entsprechend viele Stuhlteile gefertigt werden können.

Neue Sitzgewohnheiten

Die Zeit hat die Sitzgewohnheiten ändern lassen. Das Essen wird informeller. Im Gastro- wie auch im Privatbereich bevorzugen immer mehr Menschen das höhere Sitzen auf einem Barhocker. In vielen Lokalen bestehen heute bis zu 50 Prozent der Bestuhlung aus solchen Hockern. Gerade für Menschen, die den ganzen Tag am Schreibtisch arbeiten, ist diese Sitzhaltung willkommen und ergonomisch auch sinnvoll.

Grund genug für die Glarner Möbelfabrik, das Angebot in diesem Bereich zu erweitern. Es versteht sich von selbst, dass bei diesem Trend ein erfolgreiches Stuhlmodell einen passenden Barhocker an seiner Seite haben muss, um weiterhin erfolgreich verkauft werden zu können. Bei einer solchen Vorgabe kommt leicht der Gedanke auf, dass man den Stuhl ja nur etwas höher bauen muss. Aber das geht weder optisch noch ergonomisch oder statisch-funktionell. Bis die Einzelteile des «Classic Barhocker 11-380» (linke Seite oben) so definiert waren, vergingen zwei Jahre.

Gruppenbildung für den Werksentwurf

Wie schon der Stuhl sollte der Barhocker als Werksentwurf entstehen. Die Leute, welche aus ihrer Profession heraus alles über den Stuhl und dessen Feinheiten wissen, haben den Hocker erschaffen. Der Entwicklungsleiter, alle Abteilungsleiter, die Geschäftsleitung sowie ein externer Designer zur Unterstützung definierten in einem Brainstorming (Sammeln von Vorschlägen und Lösungsansätzen) den grundlegenden Aufbau des Hockers. Dieser sollte ein Hochstuhl mit komfortabler Sitzposition werden. Trotz der Höhe musste auch der Schwung der Hinterbeine erhalten bleiben.

Von Grund auf neu

Das Team war in der Lage, subtil auf Problemstellungen zu reagieren, und das war auch nötig, denn das Sitzverhalten ist deutlich anders bei einem Hochstuhl. Würde man den Stuhl einfach mit langen Beinen machen, wäre dieser unbequem.

Dadurch, dass man von unten auf den Sitz gelangt, muss die Sitzfläche kleiner und der Rücken weiter unten angebracht sein. Durch das Steh-, Anlehn- und Sitzverhalten auf einem Hocker an der Bar sollte der Stuhlrücken zudem einen Innenradius aufweisen, der auch ein Anlehnen aus verschiedenen Richtungen erlaubt und trotzdem nicht einengt. Ist diese Geometrie gefunden, geht es um die richtige Auflagehöhe für die Füsse. Auch da braucht es den optimalen Kompromiss, der für kleinere wie für grosse Personen noch als bequem empfunden wird.

Wer aufsteht und um den Hocker herumläuft, sollte nicht über die Stuhlbeine stolpern. Dennoch darf der Benutzer nicht Gefahr laufen, mit dem Barhocker umzukippen. Die beiden hinteren Standpunkte sind besonders wichtig, weil die Hinterbeine optisch ja etwas vom Schwung jener des Stuhles haben sollen. Jede Anpassung des Bogens kann Auswirkungen auf die Grösse und Form der anderen Elemente haben.

Ausprobieren geht über alles

Bei kaum einem anderen Möbel ist das Funktionelle so wichtig wie bei Sitzmöbeln. Sobald man glaubt, eine gute Form und Abmessung gefunden zu haben, muss diese realistisch überprüft werden. Entsprechend wurde in Glarus alles im Massstab 1:1 aus Massivholz hergestellt und ausprobiert – ein Aufwand, der sich letztlich auszahlt, denn der Bau jeglicher Schablonen lohnt sich nur, wenn man sich wirklich sicher ist.Der Prototypenbau ist weitgehend Handarbeit, unter Ausnützung aller zur Verfügung stehenden Hilfsmittel. Praktisch ist sicher, dass die Firma über eine eigene Metallwerkstatt verfügt, wodurch notwendige erste Schablonen, etwa fürs Biegen, einfacher hergestellt werden können.

Eine Fussstütze kommt beim Stuhl nicht vor und musste somit überhaupt erst definiert werden. Ob es verzapfte Holztraversen, ein u-förmiger Bügel oder ein geschlossener Reif sein sollte, musste am Prototypenhocker ausprobiert werden. Interessant war dann, dass ein geschlossener Flachstahlreif zum Anschrauben genau die notwendige, schlichte und zeitlose Eleganz gebracht hat.

In die Modelllinie integrieren

Wer viele Modelle in Serie fertigt, sollte darauf achten, dass bewährte Fertigungsmethoden Verwendung finden und die Lagerhaltung überschaubar bleibt.

Der Anspruch an einen durchgängig gleichmässigen Faserverlauf ist bei Massivholz, das gebogen werden soll, sehr hoch. Kurven im Jahrringverlauf können sehr schnell zu einer Falte beim Biegen führen. Bei Horgenglarus ist man bestrebt, die Holzdimensionen beim Rohzuschnitt so zu wählen, dass immer mehrere Produkte daraus gefertigt werden können. Beim Zuschnitt können Reste gleich auf Lagerdimensionen gerüstet werden. Damit wird eine optimalere Holzausnutzung erzielt.

Letztendlich hat die interne Entwicklungsarbeit nicht nur alle Produktionsprozesse berücksichtigt, sondern mit dem Wissen und Können der Erbauer des Stuhles eine echte Modellerweiterung geschaffen.

www.horgenglarus.ch

ab

Veröffentlichung: 08. November 2018 / Ausgabe 45/2018

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