Die Variation ist die neue Norm


Rafael Duss zeigt am verstellbaren Korpus, wo für ihn die passende Höhe der Arbeitsfläche liegt. Bild: Stefan Hilzinger
Rafael Duss zeigt am verstellbaren Korpus, wo für ihn die passende Höhe der Arbeitsfläche liegt. Bild: Stefan Hilzinger
Ergonomie. Die Schweizer Norm für Einbauküchen war revolutionär und prägt seit den 1960er-Jahren die hiesige Küchenlandschaft. Doch Mensch und Technik sind dem fixen Raster mittlerweile entwachsen. Die Suche nach einer neuen Richtschnur ist im Gange.
Der Sechstel ist das Mass der Dinge in hiesigen Einbauküchen. «Der Sechstelraster war revolutionär, und jeder Schreiner weiss, worum es dabei geht», sagt Rafael Duss, Leiter Entwicklung und ICT beim Küchenbauer Veriset in Root LU. 127 mm oder 5 Zoll, so hoch ist ein Grundelement in einer Küchenzeile: Drei Sechstel für die hohe Pfannenschublade, zwei Sechstel für die mittelhohe Schublade darüber und ein Sechstel schliesslich für die flache Besteckschublade direkt unter der Arbeitsplatte. Bis Oberkante Hochschrank sind es 16 Sechstel oder 2032 mm. Einer der Väter des Gardemasses für Küchen war der Industriedesigner Hans Hilfiker. Schweizer sehen seine gestalterische Handschrift nicht nur am heimischen Herd, sondern auch auf allen Bahnhöfen, denn Hilfiker war der Gestalter der berühmten Uhr mit der roten Kelle als Sekundenzeiger.
An der Landesausstellung Expo 64 in Lausanne stellte die Schweizerische Industriekommission zur Normung der Küche (Sink) die nach ihr benannte Norm und eine Musterküche erstmals der Öffentlichkeit vor (siehe Kasten). Doch seit damals hat sich manches verändert, und das Schweizer Mass- System (SMS), wie die Sink-Norm inzwischen heisst, ist aus folgenden Gründen infrage gestellt:
«Die Norm ist schon seit Längerem unter Druck», sagt Engelbert Weis, Geschäftsführer der Elbau Küchen AG in Bühler AR. Er führt ein weiteres Beispiel aus dem Kapitel technischer Fortschritt an: Während die Schweizer Norm SMS noch von einer Dicke der Arbeitsplatten von 30 mm ausgeht, seien moderne Abdeckungen häufig bloss noch 20 mm, manche Werkstoffe gar nur noch 10 mm stark. «Üblicherweise wurde das bisher mit einem höheren Sockel ausgeglichen», sagt Weis. Besser und sinnvoller wäre es aber, in den Schubladen entsprechend mehr Raum zu schaffen, beispielsweise, um 1,5-Liter-PET-Flaschen bequem stehend zu versorgen – was exemplarisch die Stossrichtung einer möglichen neuen Richtschnur im Küchenbau aufzeigt.
Mitte Dezember des vergangenen Jahres ging der Luzerner Küchenbauer Veriset in die Offensive. «Schweizer Küchenherstellerin Veriset reformiert Schweizer Mass-System» war die Pressemeldung des Marktführers übertitelt. Veriset setzt auf Variation statt Norm bei den Küchen. Der Kopf hinter VMS – dem «Variablen Mass System» – ist Entwicklungsleiter Rafael Duss, gelernter Schreiner und Schreiner-Techniker. Er hat sich vertieft mit dem Thema Ergonomie in der Küche beschäftigt. Ein Orientierungspunkt war ihm dabei die Deutsche Industrienorm Din 33402-2 zur Anthropometrie – wörtlich «Vermessung des Menschen». Die Norm wird unter anderem zur ergonomischen, möglichst angenehmen Gestaltung von Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie angewandt.
Gemäss einer Studie der Arbeitsgemeinschaft für die moderne Küche (AMK) «liegt die optimale Arbeitshöhe etwa 100 bis 150 mm unterhalb des angewinkelten Ellbogens». Und in Bezug auf die grösser gewordenen Menschen heisst das gemäss Duss: «Für immer mehr Menschen ist die standardisierte Arbeitshöhe von 900 mm nicht mehr passend.» Diese Erkenntnis ist nicht ganz neu. Schon jetzt werden bei Veriset rund 15 Prozent der Küchen mit Arbeitshöhen von mehr als 900 mm bestellt. Neu ist nun der Ansatz, die Arbeitshöhe über die Korpushöhe zu bestimmen und damit den Stauraum optimal zu nutzen. Was für Anpassungen der Arbeitshöhe gegen oben gilt, gilt beim VMS genauso gegen unten für kleinere Menschen.
«Es gab eine Zeit, da wurden die Kochfelder tiefer und die Rüstflächen höher gemacht. Doch die Lösung mit einem Absatz in der Kombination will heute niemand mehr», sagt Duss. Der neue Ansatz ist eine andere Aufteilung der Front, die nicht mehr dem Sechstelraster folgt, sondern eine variable Höhe der Arbeitsfläche zwischen 880 und 980 mm hat. Der Versatz wird nicht über die Sockelhöhe ausgeglichen, sondern mittels der Schubladen. «So gewinnen wir Stauraum und Platz, etwa für die Entlüftung unterhalb eines Induktionskochfeldes», sagt Duss. Die Unterteilungen im Unterbau messen bei Veriset nun beispielsweise 400, 250 und 150 mm (siehe Grafik auf der folgenden Seite). Was eine Korpushöhe von 800 mm ergibt anstatt der 762 mm in der SMS-Norm. 800 mm plus 110 mm Sockel plus 20 mm Arbeitsplatte ergibt dann eine Arbeitshöhe von 930 mm. «Wir wollten gerade Masszahlen. Die Einteilung orientiert sich zudem am Goldenen Schnitt, sodass eine optisch ausgewogene Linienführung entsteht», sagt Duss.
Duss hat das Variable Mass System als Mitglied der Technischen Arbeitsgruppe des Branchenverbandes Küche Schweiz eingebracht. Sein Wunsch ist, dass die Küchenbauer die von ihm angestossene Weiterentwicklung der Norm mittragen. «Dazu benötigt es weitere Untersuchungen im Bereich Ergonomie und Anthropometrie», sagt Duss – und die Player in der Branche müssten bereit sein, diese Untersuchungen zu finanzieren. Noch steht die Diskussion am Anfang. Was sich aber abzeichnet: Die Höhe der Arbeitsfläche wird zu einem individuellen Kompromiss werden. «Es ist wichtig zu wissen, wer in der Küche wirkt und welche Arbeiten primär anfallen», sagt Engelbert Weis von Elbau. Um die Bedeutung der passenden Arbeitshöhe aufzuzeigen, setzen Hersteller in ihren Ausstellungen verstellbare Korpusse ein. «Sogar die Höhe der Schuhe, die er oder sie gewöhnlich in der Küche trägt, berücksichtigen wir», sagt Duss.
www.elbau.chwww.veriset.chVeröffentlichung: 25. Februar 2021 / Ausgabe 9/2021
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