Aus jeder Situation das Beste machen


Auf engstem Raum stellen die Mitarbeiter der Schreinerei aus den selbst gefertigten Teilen Therapiestühle und Stehhilfen her. Bild: Michael Bolli
Auf engstem Raum stellen die Mitarbeiter der Schreinerei aus den selbst gefertigten Teilen Therapiestühle und Stehhilfen her. Bild: Michael Bolli
Solidarität. Das südafrikanische Hilfswerk Timion lässt in der eigenen Schreinerei Hilfsmittel für Kinder mit Behinderung herstellen, weil solche Geräte kaum erhältlich sind. Immer wieder absolvieren Berufsleute aus der Schweiz freiwillige Einsätze für die Organisation.
Es geht emsig zu und her in der Schreinerei der christlich-humanitären Organisation Timion in Jeffreys Bay in Südafrika. Die sieben Mitarbeiter arbeiten voll motiviert. Sie wissen, wie wichtig und sinnvoll ihre Arbeit ist. Denn sie stellen Hilfsmittel für Kinder mit Behinderungen her. Hilfsmittel, welche die Kinder und deren Familien entlasten sollen. Wegen der oft mangelnden Betreuung während und nach der Geburt gibt es in den Townships Südafrikas viele Kinder mit cerebraler Parese (CP). Das ist eine Störung des Nerven- und Muskelsystems, die beispielsweise zu Lähmungen der Gliedmassen führen kann. Weltweit sind etwa 2 von 1000 Kindern davon betroffen. Die Funktionsweise der bei Timion hergestellten Therapiestühle und Stehhilfen ist vergleichbar mit jener von Hilfsmitteln hier in der Schweiz. Der grosse Unterschied liegt aber in der Materialwahl und in der Herstellung: Die Schreiner von Timion arbeiten mit Tannenholz und Sperrholzplatten. Doch die Institution stellt nicht nur Hilfsmittel her. Eine weitere wichtige Aufgabe sind Therapien für die Kinder (Kasten).
In der Schreinerwerkstatt werden die Einzelteile gefertigt, die Produkte montiert und vollendet. Nebst den Hilfsmitteln zählen auch Möbel, Spielzeuge, Dekorationsartikel und Auftragsarbeiten zum Angebot. Eine selbst entwickelte und gebaute CNC-Maschine trägt dazu bei, dass die Produktion gesteigert und die Qualität verbessert werden kann. Wian Thesnar, der gelernte Technische Zeichner und CNC-Operateur, sitzt selbst im Rollstuhl. Er bringt nicht nur sein technisches Wissen in die Produktion mit ein, sondern auch seine Erfahrung aus der eigenen Betroffenheit. Der ständige Austausch mit den Therapeutinnen und Therapeuten trägt dazu bei, dass die Wirksamkeit der Hilfsmittel laufend den Bedürfnissen der Kinder angepasst wird.
Daniel Meyer, ein Schweizer Orthopädist und Mitgründer des Hilfswerk, hat die Geräte in Zusammenarbeit mit Schreinern aus Frankreich und der Schweiz und mit dem Therapiepersonal entwickelt.
Einer der engagierten Schreiner ist Michael Bolli. Der junge Berufsmann aus Felben-Wellhausen TG hat seine Leidenschaft fürs Surfen und den Schreinerberuf schon mehrmals bei Aufenthalten in der Küstenstadt Jeffreys Bay kombiniert. Er berichtet von seinem Einsatz: «Herstellungsverfahren und Materialwahl, wie sie in der Schweiz üblich wären, sind in den armen Verhältnissen in Südafrika schlichtweg nicht finanzierbar.» Darum habe sich die Schreinerei bei der Herstellung der Hilfsmittel und der anderen Produkte für einheimisches Tannenholz und Sperrholzplatten entschieden. Tannenholz ist günstig und gut zu verarbeiten. Schreiner aus der Schweiz und Frankreich haben dann die Pläne und die Stücklisten für die fertig entwickelten Therapiestühle und Stehhilfen erstellt und so die Produktion vorbereitet.
Weil Therapiestühle und Stehhilfen nun in Serie immer vergleichbar aufgebaut sind, müssen die Pläne nicht laufend erneuert werden. «Das Tannenholz wird im Rohzuschnitt angeliefert. Die Mitarbeiter schneiden die Bretter dann grob zu, hobeln sie, anschliessend kommt der Formatschnitt, dann folgen die verschiedenen Bearbeitungsschritte bis zum Werkstück», erklärt Bolli. Je nach Produkt seien diese einfacher oder aber auch recht kompliziert aufgebaut.
Für die Bearbeitungen stehen Kehlmaschine, Ständerbohrmaschine, Oberfräse und die CNC-Maschine zur Verfügung, mit der die Mitarbeiter vor allem Sperrholz bearbeiten. Die Teile werden noch geschliffen und dann teilmontiert. Schliesslich geht es in den selbst gebauten Spritzraum, wo sie mit Klarlack versehen werden.
Nach der Endmontage und einem ersten Testlauf kommen die Hilfsmittel entweder ins Lager oder sie gehen direkt zu den Therapeutinnen, respektive Kunden holen sie bei der Werkstatt ab. «In der Produktion wie auch im Büro herrschen wirklich sehr enge Platzverhältnisse. An gewissen Tagen kann man sich kaum drehen, ohne dem Arbeitskollegen auf die Füsse zu treten», sagt Bolli. Die Produktion stosse nun an ihre Grenzen. Darum soll ausgebaut werden. Die Pläne seien erstellt, die Bewilligungen eingereicht und teils auch schon ausgesprochen. «Mit einigen Arbeiten wurde schon begonnen, so mit den beiden Bungalows neben der zukünftigen Werkstatt und dem Bürogebäude», berichtet Bolli. Die nächsten grossen Schritte seien nun das Ausbauen und Einrichten der neuen Werkstatt. Die Fläche werde um ein Vielfaches grösser. «Das ermöglicht einen sauberen Arbeitsfluss und das Einhalten des ursprünglich geplanten Ablaufes.»
Die Mitarbeiter in der Werkstatt arbeiten teilweise schon mehrere Jahre bei Timion und lehren immer wieder neue Arbeiter an. Wenn Schreiner aus der Schweiz für längere Zeit mithelfen, geben sie gerne ihr Gelerntes an die Werkstattcrew weiter. «Einige der ausgeführten Übungsaufgaben wird man wohl bei den VSSM-Übungsaufgaben wiederfinden», sagt Bolli. Die Arbeit in der Werkstatt verlangt immer wieder Kreativität, speziell beim Entwickeln neuer Produkte. Die Arbeit in einer südafrikanischen Werkstatt sei im Vergleich zu einer Schweizer Werkstatt schon deutlich anders. Die Einrichtung sei einfacher, die Maschinen seien kleiner und die Platzverhältnisse enger. «Der wohl grösste Unterschied ist aber die Art und Weise, wie gearbeitet wird. Man macht aus jeder Situation das Beste.» Und wenn mal nichts mehr gehe, wie zum Beispiel bei einem der immer wieder vorkommenden Stromausfälle, lasse man sich nicht aus der Ruhe bringen und nehme es, wie es halt komme.
Eine Metallwerkstatt gehört ebenfalls zum Hilfswerk. Sie stellt leichte Teile für die Therapiestühle und Stehhilfen her. Ortsansässige werden angelehrt, und aktuell wird auch ein Lernender ausgebildet. Mit privaten Aufträgen und der Herstellung von Möbeln und Accessoires versucht Timion, zusätzliche Einnahmen zu generieren.
Aktuell zählt das Team von Timion 17 Festangestellte: 5 Therapeuten, 3 in der Administration, 2 Seelsorger und 7 Mitarbeiter in den Werkstätten. Die Therapeutinnen und Therapeuten machen täglich Hausbesuche. Nur so sei es möglich, mehr über die Zustände in den Familien zu erfahren, den Einsatz der Hilfsmittel zu zeigen und die Kinder und deren Familien optimal zu unterstützen. Wegen der steigenden Kriminalität müssen die Hausbesuche wohl leider reduziert werden.
Alle Teammitglieder seien voller Tatendrang dabei gewesen, als es darum ging, eine Kindertagesstätte (Kita) zu bauen. Die Mütter können ihre Kinder mit Behinderung dort betreuen lassen, während sie arbeiten gehen oder an einem Weiterbildungskurs an der Tagesschule gleich über der Kita teilnehmen. Die Kinder sind so in Gesellschaft anderer Kinder, können spielen und lernen. Zudem erhalten sie hier auch die benötigten Therapiestunden. In der Tagesschule arbeiten Mütter von bereits erwachsenen behinderten Kindern, was zu regem Erfahrungsaustausch führt. Kitas will das Hilfswerk auch in anderen Townships verwirklichen.
Das einstige Fischerdorf Jeffreys Bay am Indischen Ozean ist zu einem populären Reiseziel geworden und vor allem bei Surfern beliebt. Was geblieben ist, sind die Townships. Die Siedlungen wurden während der Apartheid zur Rassentrennung gebaut. Armut und soziale Ausgrenzung sind an der Tagesordnung, was besonders die Schwächsten in der Bevölkerung trifft: Kinder mit Behinderung und ihre oft alleinerziehenden Mütter und deren Familien.
Zur grossen Herausforderung, ein Kind mit Behinderung alleine und unter ärmlichen Verhältnissen grosszuziehen, kommen noch mangelndes Wissen über die Behinderung und teilweise der weiterhin vorherrschende Aberglaube. Dies alles trägt dazu bei, dass die Familien ausgegrenzt werden.
Um den Verhältnissen entgegenzuwirken, gründeten Anika und Daniel Meyer Ende 2006 die humanitäre Organisation Timion. Der Schweizer Orthopädist und die südafrikanische Physiotherapeutin verspürten den Wunsch, sich und ihre Erfahrung in den Armenvierteln einzubringen. «Ermutigen – Befähigen – Glauben» lauten die Grundsätze der christlich orientierten Organisation. «Hilfe zur Selbsthilfe» ist dabei ihr zentrales Anliegen. Weil es lokal kaum Hilfsmittel für Behinderte zu kaufen gab, werden sie nun in der eigenen Schreinerei entwickelt und produziert. Timion beschäftigt auch Zivildienstleistende aus der Schweiz. Weitere Informationen gibt es auf der Website.
www.timion.orgVeröffentlichung: 28. August 2020 / Ausgabe 35/2020
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