Von der Hobelbank in die Luft

Schreiner Christoph Gysel (49) hat eine Leidenschaft für alles, was fliegt. Bild: Beatrix Bächtold

Leute. Ein sonniger Sommertag auf einer Wiese im Klettgau. Der Motor des Modellflugzeugs brummt. Das Fluggerät hebt ab, gewinnt an Höhe und dreht eine Kurve. Spaziergänger bleiben stehen und schauen ihm nach. Sie scheinen diese unerwartete Attraktion zu geniessen und winken Christoph Gysel zu, der dieses Modellflugzeug gerade mit einer Fernsteuerung lenkt.

Modellflugzeug klingt so klein. Dieses Flugobjekt bringt aber stolze 25 Kilo auf die Waage. Dass es jetzt so elegant durch die Luft gleitet, ist irgendwie schon ein physikalisches Wunder. In den Anfängen der Modellflugzeuggeschichte soll es schon häufiger zu Zwischenfällen gekommen sein, wie Gysel zu berichten weiss. Mittlerweile ist die Technik aber so ausgeklügelt, dass meistens alles glattgeht. Wenn Gysel nicht gerade Modellflugzeuge durch die Luft steuert, führt er zusammen mit seinem Bruder Jürg die Gysel Schreinerei GmbH, einen Zweimannbetrieb in Wilchingen SH. Es ist eine klassische Kundenschreinerei in der vierten Generation. Keine grossen Maschinen. Einfach viel Holz und Leidenschaft. Für jedes Problem scheint es hier eine Lösung zu geben. «Auch was lädierte Modellflugzeuge angeht, habe ich mir inzwischen viel Know-how angeeignet», sagt er. Bereits ist die fünfte hölzige Gysel-Generation in den Startlöchern. «Unser Sohn Simi lernt gerade Zimmermann bei der Thomi Holzbau AG hier im Ort», sagt der Vater und zeigt stolz das Foto eines massiven Unterstands mit Giebeldach, den sein Sprössling kürzlich aufgestellt hat.

«Auch was lädierte Modellflugzeuge angeht, habe ich mir inzwischen viel Know-how angeeignet.»

Doch zurück zum Modellflug. Das Gen für diese Leidenschaft konnte Christoph Gysel nicht weitergeben. Der Wilchinger lebt es ganz alleine aus. Nebst Feuerwehr und Turnverein, vollen Auftragsbüchern und der Familie ist er Mitglied in der Motorfluggruppe im benachbarten Jestetten (D). Manchmal startet er auch auf den Wiesen befreundeter Landwirte, so wie jetzt gerade. Flugtüchtige Fluggeräte besitzt er mehrere. In einem Raum neben der Werkstatt steht zum Beispiel der 23 Kilo schwere Helikopter «Lama SB315» oder der Schleppflieger «Wilga», den der Schreiner mittels Bausatz selbst realisierte. Der Rumpf aus Glasfaser, der Propeller aus Buche, verfügt dieses Prunkstück über einen Boxermotor mit 150 Kubikzentimeter. Der ist dreimal so stark wie ein Töffli und durstig nach Kerosin. Die Spannweite der Flügel aus Balsa beträgt 320 Zentimeter. Während diese beiden startklar sind, hat der Veteran am Fenstersims noch eine aufwendige Restauration vor sich. Zwar ist die hölzerne Gitterkonstruktion der Tragflächen noch intakt, aber die Papierverkleidung hängt an einigen Stellen in Fetzen. Es ist ein intensives Hobby, das der Wilchinger da betreibt. Aber viele unvergessliche Momente entschädigen ihn für vieles. Ein Highlight war etwa die Besichtigung der Wucher-Werke in Ludesch in Vorarlberg. «Als ich meinen Modell-Heli neben das Original stellte, sorgte das für Staunen», berichtet er. Ebenfalls spektakulär ist das, was der 49-Jährige gerade anpeilt: Der Schreiner versucht, mit seinem «Lama SB315» und mit 70 Gleichgesinnten ins Guinness-Buch der Rekorde zu gelangen.

Die Gruppe will die Jury mit einer grossen Ansammlung von Lama- und Alouette-Helikoptern überzeugen. Vor knapp einem Jahr fand der Weltrekordversuch im Rahmen des Flugtags Aarau statt. Momentan erwartet Gysel sehnlich den Bescheid. Die Wartezeit verkürzt er sich – wie könnte es anders sein – mit seinen Modellflugzeugen.

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 01. Juli 2024 / Ausgabe 26/2024

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