Schreiner – ein Leben lang

Hans Neuenschwander (90) kehrte im ersten Lockdown 2020 von seiner Kanadareise zurück in die Schweiz. Bild: Franziska Herren

Hans Neuenschwander sitzt in der Stube seines Einfamilienhauses in Aarburg AG und blickt in den sonnigen Herbstnachmittag. Eine Nachbarskatze spaziert durch den Garten, in dem noch die letzten dunkelblauen Trauben an den Reben hängen. «Eine der schönsten Erinnerungen ist, wie meine Frau und ich dieses Haus bauten. Sie erwartete damals das dritte Kind», erzählt Neuenschwander strahlend. Eine grauhaarige Frau lächelt in einem eingerahmten Foto vom Stubentisch. «Das ist Heidi, meine Frau. Sie ist letztes Jahr gestorben.» Mit 73 Jahren machten sich bei ihr Anzeichen von Demenz bemerkbar. «Die darauffolgenden Jahre waren sehr schwierig.» Neuenschwander übernahm immer mehr Aufgaben. Er lernte kochen und machte den ganzen Haushalt. Daneben führte er seine Schreinerei, die er erst dieses Jahr aufgab – mit 90 Jahren. Neuenschwander ist ein quirliger Mann, mit einem wachen Geist und einer beeindruckenden Lebensgeschichte. Zusammen mit vier Geschwistern wuchs er auf einem kleinen Bauernbetrieb auf. Im Haus gab es kein fliessendes Wasser und gewaschen wurde draussen an einem Sodbrunnen. Als Neuenschwander acht Jahre alt war, brach der Zweite Weltkrieg aus. Sein Vater rückte in den Dienst ein und die Arbeit mit Vieh und Hühnern fiel dem kleinen Hans zu.

«Ich stand jeden Tag um halb fünf auf, besorgte den Hof, bis die Schule begann», schildert er. Daneben half er einer Bauernfamilie in der Nachbarschaft beim Säen, Pflanzen und Ernten. «Ich verdiente zwanzig Rappen pro Tag. Meist gab es noch einen Franken Trinkgeld.» Dieses Geld lieferte er seiner Mutter ab, die sich mit ihren fünf Kindern durch die Kriegsjahre kämpfte. «Wir mussten richtig unten durch.»

Nach der Schule machte er eine Lehre als Möbelschreiner. In seinem Lehrbetrieb half er mit, Aussteuern anzufertigen. «Damals war es ja so, dass der Vater der Braut die Aussteuer auswählte. Dazu gehörten Möbel für das zukünftige Zuhause des Brautpaars wie Bett, Nachttische, Stühle oder Buffet.» Nach der Lehre arbeitete Neuenschwander oftmals zu niedrigsten Löhnen. «Einmal verdiente ich nur einen Franken pro Stunde», erzählt er. Wegen des schlechten Verdienstes spielte er mit dem Gedanken, den Schreinerberuf an den Nagel zu hängen. «Genau da wechselte ich in eine Schreinerei, wo mich mein Chef nach kurzer Zeit als Maschinist einsetzte. Das gefiel mir sofort.» Neuenschwander bildete sich laufend weiter und führte 36 Jahre lang grosse Holzbetriebe. Mit 62 Jahren fing er nochmals ganz neu an. Er richtete in seinem Keller eine Werkstatt ein und machte sich selbstständig. «Die Selbstständigkeit war meine schönste Zeit. Dass ich bis 90 arbeiten würde, hätte ich aber selber nie gedacht.» Mit 89 liess sich Neuenschwander noch auf ein besonderes Abenteuer ein. «In der ‹Tierwelt› entdeckte ich ein Inserat eines Schweizers, der in Kanada eine Lodge führte und jemanden für Unterhaltsarbeiten suchte.» Auf dieses Inserat bewarb sich noch ein anderer Rentner. Die beiden nahmen Kontakt auf und entschlossen sich, zusammen nach Kanada aufzubrechen – Tausend Kilometer von Vancouver entfernt, in einen Wald, mitten in ein Indianerreservat.

Neuenschwander und sein Kollege fällten bei minus 20 bis minus 30 Grad Holz, reparierten Generatoren und kümmerten sich um die Wasserversorgung der Lodge. «Die Natur war einmalig. Ohne Hund wäre ich aber nie in den Wald gegangen, denn es gab Bären und Pumas. Mir hat dort übrigens niemand geglaubt, dass ich schon fast neunzig bin.»

«Die Selbstständigkeit war meine schönste Zeit. Dass ich bis 90 arbeiten würde, hätte ich aber selber nie gedacht.»

Franziska Herren

Veröffentlichung: 09. Dezember 2021 / Ausgabe 50/2021

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