Schlaflos im Sattel

Bildlegende Grenze der Belastbarkeit: Matthieu Lossel (26) fährt am «Race Around Austria» in fünfeinhalb Tagen um Österreich und gönnt sich dabei nur knapp neun Stunden Schlaf. Bild: PD

Nach 5 Tagen, 4 Stunden und 13 Minuten fährt Matthieu Lossel über die Ziellinie. Er hat 2200 Kilometer in den Beinen, 30 000 Höhenmeter bewältigt und einmal Österreich umrundet. «Race Around Austria» ist ein sogenanntes Ultraradrennen – das heisst Tag und Nacht im Sattel, kurze Pausen und schwere Beine, die trotz Erschöpfung wie mechanisch Kilometer um Kilometer abspulen. Immer der Grenze entlang und die eigenen Grenzen austestend. «Du wirst Dinge über dich selbst erfahren, von denen Kurzzeitleister nur träumen können», so steht es auf der Website des Rennens. Und wie war das bei Lossel? «Der Schlafentzug war hart. Vor allem wenn die Nacht hereinbrach und die Müdigkeit kam», sagt er. Die Zeit arbeitet gegen die Rennfahrer. Klassiert wird nur, wer binnen fünfeinhalb Tagen das Ziel in St. Georgen im Attergau erreicht. Lossel kämpft mit Turnübungen gegen den Schlaf. Nur je zweimal 18 Minuten Pause gönnt er sich an den ersten beiden Tagen. Aber auf dem Grossglocknerpass, der die Bundesländer Salzburg und Kärnten verbindet, helfen auch die Turnübungen nicht mehr. «Es war Nacht, regnerisch und neblig und die Passabfahrt stand bevor. Da habe ich gemerkt, dass es nicht mehr geht und ich eine längere Pause brauche.» Er legt sich zwei Stunden hin und schwingt sich dann wieder in den Sattel. Im Ziel wird das Schlafkonto mit knapp neun Stunden ein gigantisches Minus aufweisen. Das härteste Radrennen Europas hat ein kleines Starterfeld. Nur 35 Personen haben es im August gewagt, die 2200 Kilometer unter die Räder zu nehmen und nur 15 erreichten das Ziel. Lossel wurde von seiner Mutter, seinem Götti und vier Freunden in zwei Autos begleitet. Sie haben navigiert, eingekauft, organisiert, ihn verpflegt und moralisch unterstützt. «Sie haben so viel für mich getan», sagt er rückblickend.

In die Pedale treten muss er aber selber. Trotz der Anstrengung und dem Schlafentzug – auf dem Fahrrad ist Lossel ein Geniesser. Die wechselnden Landschaften mit Weinbergen, Sonnenblumenfeldern, in den Sonnenuntergang oder -aufgang zu fahren und vorbei an Österreichs Städten an der Grenze zu Ungarn, Tschechien und der Slowakei, «das ist einfach schön», sagt er und der eigentliche Grund, weshalb er Rad fährt. «Die körperliche Leistung steht nicht im Vordergrund, sondern die Freude an der Sache.» Deshalb das Training auf der Strasse und deshalb die vielen Stunden Krafttraining, die er im Winter absolviert. Angefangen hat er mit den Alpenbrevets Gold und Platin, die über die Schweizer Pässe führen. Gesteigert hat er sich mit der «Tortour» – tausend Kilometer Ultracycling rund um die Schweiz mit einem Zeitlimit von 48 Stunden. Körperlich ist er so fit, dass er nie daran gezweifelt hat, auch in Österreich ins Ziel zu kommen. Trotzdem waren die letzten 200 Kilometer hart.

Lossel kämpfte mit Motivationsproblemen. «Das war das einzige Mal während des Rennens, dass ich ausgerechnet habe, wie lange es noch dauert», sagt er.

Aber der Zäziwiler, der normalerweise in einer Schreinerei in eben dieser Berner Gemeinde die Maschinen bedient, hat sich einen starken Willen antrainiert und es bis ins Ziel geschafft. «Aufgeben war nie eine Option», sagt er. Es hat sich gelohnt. «Wenn ich heute daran denke, was ich mit meinem Team erlebt habe, empfinde ich grosse Freude und Dankbarkeit.»

«Der Schlafentzug war hart. Vor allem wenn die Nacht hereinbrach und die Müdigkeit kam.»

sas

Veröffentlichung: 05. Oktober 2017 / Ausgabe 40/2017

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