Experiment mit Spannung

Forschungspavillon. Ein temporäres Gebäude aus elastisch gebogenen Sperrholzstreifen wurde getestet, wie computerbasierte Entwurfsmethoden in Kombination mit numerischer Simulation des Tragwerks und des Materialverhaltens zu neuen architektonischen Möglichkeiten führen.

 

Es gilt der altbekannte Grundsatz, dass die Tragfähigkeit einer Konstruktion nicht nur vom Material abhängt, sondern sehr wesentlich auch von dessen Formgebung. Den modernen Beweis lieferten Wissenschaftler und Studenten des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) sowie des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart: Sie planten und bauten einen temporären Forschungspavillon.

Wie ein überdimensionaler Lampenschirm aus geflochtener Weide wirkt die komplexe Tragstruktur aus gebogenen Sperrholzstreifen, die sich über der Rundung einer Betonbank wölbt. Der neuartige Strukturleichtbau zeigt, welche Formen sich heute in der Architektur mithilfe computerbasierter Entwurfs-, Simulations- und Produktionsprozesse entwickeln lassen.

Biegeaktive Tragstruktur

Die Tragstruktur mit 10 m Aussendurchmesser und einer Spannweite von 3,5 m ergibt sich aus der Aneinanderreihung von 40 Bogenpaaren aus Sperrholzstreifen. Durch die Verzahnung der 6,5 mm dünnen Streifen entsteht ein sehr tragfähiges Flechtwerk aus abwechselnd zug- und biegebeanspruchten Bauteilen. Dabei stabilisiert die Eigenspannung der gebogenen Streifen die Konstruktion. Solche Tragwerke bezeichnet man als «biegeaktiv». Als Fundament des Bauwerks dienen kiesgefüllte Holzwannen. Die Streifen wurden eingespannt zwischen einem inneren und einem äusseren Befestigungskranz aus senkrechten, 9 mm dicken Sperrholzspanten und an diesen verankert. Wenige spindeldürre Stützen hoben mithilfe eines Randträgers den südlichen Rand des Gehäuses an. 

Experimente sowie parametrische digitale Modelle ermittelten die genaue Form der Biegelinien der Bogenpaare und deren Abhängigkeiten untereinander. «Zuerst ging es darum, das elastische Biegeverhalten von Birkensperrholz zu ermitteln. Mit Messungen an unseren Versuchsständen fanden wir heraus, mit welchen Radien sich die Sperrholzplatten biegen lassen und welche Spannungen auftreten», erklärt Architekturstudent Manuel Vollrath stellvertretend für sein Entwurfsteam. «Dann ging es darum, eine Geometrie zu finden, die das Potenzial des Materials optimal ausnutzt und gestalterisch überzeugt.»

Auf Grundlage dieser Ermittlungen entwickelten die Studenten eine Methode zur numerischen Formfindung in einem Finite-Elemente-Methode-Programm (FEM). Aus den gewonnenen Daten generierten sie ein computerbasiertes Informationsmodell. In diesem sind alle relevanten, materialspezifischen Eigenschaften der Tragstruktur und viele andere formbestimmende Parameter eingebettet.

Skript für alle Planungsvarianten

Anders als bei herkömmlichen digitalen Entwurfsprozessen mit CAD bildet das Informationsmodell nicht die Geometrie der angestrebten Form des Pavillons ab, sondern stellt ein speziell programmiertes Computerskript dar. Es diente dazu, die im Laufe des Planungsprozesses benötigten Dateien zu erstellen, die je nach Verwendung variierten. Mit dem Skript liess sich das Übrige generieren: ein 3-D-Geometriemodell, 2-D-Zeichnungen der abgewickelten Geometrie für die Formfindung sowie die Zuschnittsgeometrie der Streifenelemente als CNC-maschinenspezifische Daten für die Herstellung.

CNC-Fertigung durch den Roboter

Mit den Daten der Modellierung gefüttert, fräste der fakultätseigene Roboter die über 500 verschiedenen Teile des Bausatzes innerhalb einer Woche. Die zehn Meter langen Streifen mussten aus Transportgründen gestückelt werden. Als zugfeste Verbindungen dienten ebenfalls im Versuch getestete reissverschlussartige Ausfräsungen an den Streifenenden, die sich wie Puzzlestücke zusammenfügen liessen – sogenannte «halbversenkte Zapfenverbindungen». Ansonsten ersetzen einfache Steckverbindungen sowie Holzkeile und Schrauben die im Holzbau üblichen Stahlknoten.

Der enge Zeitplan verlangte, alle Bauteile ohne Werkzeugwechsel in einem Durchgang zu fertigen. Nach dem Zuschnitt wurden halbverdeckte Verzinkungen eingefräst, alle Kopplungsstellen in ihren Winkeln vorgegeben und die Positionen der Sicherungsschrauben markiert. Damit waren die relevanten Informationen direkt ins Bauteil eingeprägt – eine Montageanleitung entfiel damit.

Aus 150 Birkensperrholzplatten der Grösse 2950 × 700 × 65 mm entstanden 400 unterschiedliche Streifensegmente. Zu 10 m langen Streifen gefügt, waren sie gross genug, um die gewünschte Spannweite zu erreichen, aber klein genug, dass wenige Leute sie zum Bauplatz tragen konnten.

Allen Belastungen standgehalten

Nach seiner Errichtung wurde der Pavillon mit einem Laserscanner kontinuierlich vermessen. Es liessen sich die aufgrund von Umwelteinflüssen auftretenden Materialveränderungen beobachten und der damit verbundene Spannungsabbau in der Tragstruktur während verschiedener Phasen der Standzeit dokumentieren. Der temporäre Rundling überstand ausserplanmäs­sige Belastungsproben. Er ist inzwischen wieder abgebaut. Ein spannendes Projekt bleibt es trotzdem. SJ

www.icd.uni-stuttgart.de

 

Veröffentlichung: 12. Mai 2011 / Ausgabe 19/2011

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