Ein Schreiner sattelt um

Nach 10 Tagen, 15 Stunden und 22 Minuten fuhr Matthieu Lossel (33) über die Ziellinie des «Race Across America». Bild: PD

Leute. Sobald Matthieu Lossel vom «Race Across America» (RAAM) erzählt, leuchten seine Augen. Doch wie er so unaufgeregt und bescheiden berichtet, könnte man meinen, er habe eine Velotour durch die USA gemacht.

Dabei ist das RAAM das härteste und längste Ultracycling-Rennen der Welt. Vergangenes Jahr führte die Strecke über 4930 Kilometer und 50 000 Höhenmeter von Oceanside in Kalifornien am Pazifik durch 14 Staaten bis nach Atlantic City in New Jersey am Atlantik. Der gelernte Schreiner aus Zäziwil BE ist nicht als Gümmeler zur Welt gekommen. «Die ersten 20 Jahre meines Lebens habe ich Fussball gespielt», sagt er. Zum Radfahren ist er zufällig gekommen. Vor ein paar Jahren hat ihn ein Arbeitskollege gefragt, ob er nicht beim Alpenbrevet mitfahren wolle. Spontan hat er zugesagt, ohne zu wissen, worauf er sich einlässt. Doch dann fiel der Radmarathon über die Alpenpässe wegen Schnee aus. Ein Jahr später ist er dann mitgefahren und hat sich spontan für die längste Variante entschieden. Danach ist er definitiv mit dem Gümmeler-Virus infiziert. 2014 erzählt ihm dann jemand vom «Race Across America», und er ist fasziniert. Lossel beginnt, mehr und gezielter zu trainieren, rund 20 Stunden in der Woche neben seinem 100-Prozent-Pensum als Schreiner. Er fährt Ultra-Radrennen in der Schweiz und in Österreich. 2020 qualifiziert er sich für das RAAM. Er ist topfit, hat seine Helfer und Sponsoren beisammen, die Flüge und Hotels sind gebucht, alles ist bereit. Und dann macht Corona einen Strich durch die Rechnung.Danach lässt er es ruhiger angehen mit dem Velo. Er lässt sich zum Wertschriftenhändler ausbilden, arbeitet aber weiterhin als Schreiner. Zu einem Seminar in Dresden fährt er kurz entschlossen von Zäziwil mit dem Velo. «An einer Bushaltestelle gönnte ich mir zwei Stunden Schlaf», berichtet er. Jetzt hat es ihn wieder – das Virus. Zudem motivieren ihn Menschen aus seinem Umfeld, den RAAM-Traum nochmals aufleben zu lassen. Lossel entscheidet sich, alles auf eine Karte zu setzen.

«Es gab Momente mit Halluzinationen, in denen ich die Helfer fragte, ob da vorne wirklich etwas auf der Strasse ist.»

Ende 2022 kündigt er seine Stelle als Schreiner und arbeitet als Wertschriftenhändler, damit er mehr und vor allem flexibler Zeit hat für seine Trainings. Ein Arzt und ein Trainer unterstützen ihn dabei. 2023 fährt er das «Race Across the West», die ersten 1500 Kilometer des RAAM. Der finale Test für ihn und seine Helfer, dass sie bereit sind für das härteste Radrennen der Welt. Zehn Jahre, nachdem er erstmals vom RAAM gehört hat, steht er am 11. Juni 2024 in Oceanside am Start. Tausende Trainingsstunden in den Beinen, ein 10-köpfiges Helferteam an seiner Seite und den unbändigen Willen, das RAAM nun endlich zu vollenden.Zu Beginn hält er nur kurze Power-Naps, am Ende sind es im Schnitt 1 Stunde und 20 Minuten Schlaf pro 24 Stunden. Duschen ist fast so erholsam wie Schlafen. Jede Stunde versorgen ihn die Helfer mit Essen und Trinken. Am Anfang ist es manchmal fast 50 Grad heiss, in den Rocky Mountains fahren sie auf 3000 Meter Höhe. «Es gab Momente mit Halluzinationen, und ich fragte die Helfer via Funk, ob da vorne wirklich etwas auf der Strasse ist.» Und trotzdem hat er jede Minute genossen, aufgeben war kein Thema. Nur die Hälfte der Gestarteten kommen ins Ziel. Lossel nach 10 Tagen, 15 Stunden und 22 Minuten.

Fränzi Hurni

Veröffentlichung: 10. Februar 2025 / Ausgabe 6/2025

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