Ein Neuanfang als Pöstlerin

Sarina Gartwyl (25) hat eine berufliche Veränderung gewagt und ist damit glücklich. Bild: Jeannette Gartwyl

Wenn Sarina Gartwyl im Einsatz ist, ist sie voll im Element: Hier ein Gruss, dort ein Schwatz und da ein Lachen. Sie hat vor etwas mehr als einem Jahr beruflich einen kompletten Neuanfang gewagt. Die gelernte Schreinerin arbeitet im Berner Oberländer Bergdorf Grindelwald als Pöstlerin oder «Mitarbeiterin Zustellung Briefe und Pakete», wie die offizielle Berufsbezeichnung lautet. An sechs Tagen die Woche fährt sie von ihrem Wohnort in Lauterbrunnen nach Grindelwald. Bei Dienstbeginn um 6 Uhr hilft sie zuerst, den Lastwagen zu entladen, der die Post aus dem Verteilzentrum im Unterland bringt. Dann sortiert sie Briefe und Pakete fein säuberlich in der richtigen Reihenfolge ein. Zwischen 7.30 und 8 Uhr fährt sie mit einem dreirädrigen Motorrad zu einer ersten Runde los – vorne eine Kiste mit Briefen und hinten eine grössere Kiste mit Paketen. Mittlerweile kennt sie ihre drei Touren in- und auswendig. Dafür hat sie sich nicht nur sämtliche Strassennamen und Wege gemerkt, sondern auch die einzelnen Haushalte und ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Nach einer Znünipause belädt sie ihr Post-Töffli neu und nimmt die zweite Runde in Angriff. Sobald die Post verteilt und alle Briefkästen geleert sind, bereitet Gartwyl Sendungen für den nächsten Tag vor, etwa Reklamen.

Wie lange der Arbeitstag dauert, hängt von der Anzahl der Pakete und vom Wetter ab. Bei jedem Wetter draus-sen zu sein, stört die Postbotin nicht. «Ich bin robust und habe gute Funktionskleidung», erklärt sie. Oft kann sie schon am frühen Nachmittag Feierabend machen. Das ist perfekt für ihr grösstes Hobby: Sie ist mit Leib und Seele Pferdehalterin. Mindestens zweimal täglich geht sie zu ihrem Pferd, einem Paint Horse, und ihrem Shetland-Pony. «Ich lebe für meine Tiere, sie sind mein Ein und Alles», meint sie. Bald schon möchte sie regelmässig einen Pony-Plausch für Kinder anbieten. Mit ihrem Freund teilt sie nicht nur die Liebe zu Pferden, sondern auch die Freude am Motorradfahren. Sonst ist sie oft in der kleinen Werkstatt in ihrem Elternhaus zu finden, wo sie Objekte von Hand herstellt. Oft fertigt die gelernte Schreinerin Gebrauchsobjekte aus Holz, ritzt Zeichnungen in Gläser oder produziert Bienenwachstücher. Die Produkte verkauft sie auf dem Markt oder über ihre Facebook-Seite. «Ich habe an diesen handwerklichen Arbeiten viel Spass und finde darin Ruhe», sagt sie. Dass sie ihren erlernten Beruf aufgab, hat Gründe, über die sie heute gar nicht mehr zu viel sprechen mag. Sie sei wohl in der Lehrzeit zu sensibel gewesen, um dem Druck der rauen Arbeitswelt standzuhalten, meint sie nur. Danach konnte sie sich nie mehr richtig im Beruf entfalten. Sie habe sich bei der Arbeit oft gestresst oder blockiert gefühlt. Und deshalb verliess sie auch ihren letzten Arbeitgeber, obschon sie dort ein nettes Team und einen tollen Chef gehabt habe. «Ich finde das Schreinern aber immer noch ein wunderschönes und anspruchsvolles Handwerk und beschäftige mich weiterhin gerne mit Holz. Aber ich konnte einfach nicht mehr im Beruf arbeiten», sagte die 25-Jährige.

Sie wünschte sich eine Arbeit, bei der sie abends alles erledigt hat. Und so ist es: Jeden Tag beginnt alles von Neuem, und jeder Tag bringt viel Abwechslung, neue Erfahrungen und Begegnungen. «Ich bin zwar als Pöstlerin auf Zack, aber Zeit für einen kleinen Schwatz bleibt immer», meint sie. «Ich komme heute jeden Tag nach Feierabend glücklich nach Hause und freue mich immer schon auf den nächsten Tag», sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht.

«Ich bin zwar als Pöstlerin auf Zack, aber Zeit für einen kleinen Schwatz bleibt immer.»

Franziska Gertsch

Veröffentlichung: 24. März 2022 / Ausgabe 12/2022

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