Die Fingerretter kommen
Schon der Anblick schmerzt. Wenn die Technik nun schwere Unfälle verhindert, ist das ein Meilenstein. Bild: Festool
Schon der Anblick schmerzt. Wenn die Technik nun schwere Unfälle verhindert, ist das ein Meilenstein. Bild: Festool
Schutzvorrichtungen. Eine neue Art von Sicherheitsvorrichtung hält Einzug bei den Kreissägen. Drei Hersteller haben bereits Lösungen für die Gefahrenabwehr im Fall der Fälle. Die Techniken unterscheiden sich, was sich in den daraus resultierenden Konsequenzen widerspiegelt.
Oft ist es einfach Unachtsamkeit, manchmal sind es auch Stress und Zeitdruck. Oder aber die Hand rutscht trotz konzentrierter Arbeit dann doch vom Werkstück ab. Meist ist eine Mischung aus Fahrlässigkeit und Überforderung die Ursache. Dann: ein Missgeschick, wie es nie hätte geschehen dürfen, aber dennoch immer wieder passiert bei der Arbeit an der Kreissäge. Laut Sicherheitskommission Schreinergewerbe (Siko) kam es im letzten Jahr insgesamt zu 2625 Arbeitsunfällen mit Blessuren, die Folgen hatten. Ein Teil der Schreiner zog sich die Verletzungen an der Kreissäge zu. Die Konsequenzen sind dann oft dramatisch für die Betroffenen.
Seit vielen Jahren arbeiten die Hersteller von Kreissägen an einer Entschärfung der Gefahrenquelle. Ein Mann der ersten Stunde ist dabei der US-Amerikaner Steve Gass. Bereits 2004 kam sein Unternehmen mit «Saw Stop», einer Sicherheitseinrichtung für halbstationäre Tischkreissägen, auf den Markt. Seitdem hat der Sägenhersteller nach eigenen Angaben dank der «Saw Stop»-Technik über 6000 Finger seiner US-Kundschaft retten können. «Wir hatten schon Fälle, bei denen Kunden mit der Hand abgerutscht und auf das Sägeblatt aufgeschlagen sind. Glücklicherweise arbeitete das System einwandfrei, und die Nutzer kamen stets mit geringfügigen Verletzungen davon», so Gass. Die Anzahl geretteter Finger kann deshalb näherungsweise genannt werden, weil «Saw Stop» mittels einer Kartusche ausgelöst wird. Die Patrone sorgt dafür, dass ein Aluminiumpuffer bei Hautkontakt innerhalb von fünf Millisekunden unter Federspannung gegen das Kreissägeblatt schnellt und dieses so blockiert wird. Das Sägeblatt verschwindet dabei in der Arbeitsfläche. Inzwischen gehört «Saw Stop» zur TTS Tooltechnic Systems Holding AG, und so hat Festool die Technik in der neuen Tischkreissäge TKS 80 EBS eingebaut. Nach einem Arbeitsunfall ohne schwerwiegende Folgen muss die Einheit aus Aluminiumblock und Patrone ersetzt werden. Das ist mit einem Kostenpunkt von gut 100 Franken eine überschaubare Aktion. Auch das Sägeblatt muss ausgewechselt werden. Ausgelöst wird der Mechanismus mittels eines kapazitiven Sensors, wenn es bei laufendem Betrieb zum Kontakt mit menschlicher Haut oder anderen leitfähigen Materialien kommt. Für das Bearbeiten solcher Materialien, vor allem von Aluminium, gibt es eine Bypass-Funktion. Der «Saw Stop» wird dabei deaktiviert. Sobald die Säge ausgeschaltet wird, aktiviert sich der Sicherheitsmechanismus wieder. Er muss also stets aktiv ausgeschaltet werden. Die Säge läuft auch nur, wenn eine Patrone eingesetzt wurde. Wichtig auch: Die «Saw Stop»-Technologie funktioniert nur mit Schutzleiterverbindung und geerdeter Stromquelle. Also darf kein Transformator oder eine Stromversorgung über die SYS-Power-Station zwischengeschaltet sein.
Vorab kann geprüft werden, ob das zu sägende Material leitet. Gerade bei Verbundwerkstoffen wie etwa Dibond ist das eine wichtige Funktion. Man hält das Material einfach an das stehende Sägeblatt und sieht über die LED am Schalter das entsprechende optische Signal.
Im Ernstfall geht es um Sekundenbruchteile. Dabei ist es egal, ob es sich um eine leichte Säge für die Montage oder eine Formatkreissäge handelt. Doch für die technische Umsetzung einer solchen Sicherheitseinrichtung hat das gravierende Auswirkungen. Schon früh hat man versucht, die «Saw Stop»-Technik auch für grosse Formatkreissägen zu nutzen. «Anfänglich wollte man das System auch in grosse Maschinen einbauen. Eine Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass dies nicht funktioniert. Die bewegte Masse ist zu gross, sodass die Gefahr einer Zerstörung und damit einer Gefährdung des Benutzers bei grösseren Kreissägeblättern erheblich ist», erklärt Michael Mühldorfer, Leiter Produktmanagement beim Maschinenhersteller Martin.
Es geht bei der Sicherheitseinrichtung um einen zweiteiligen Prozess. Das ist bei der Sensorik immer so. Erst die Kombination aus Sensor und Aktor führt dazu, dass Maschinen und Prozesse automatisiert gesteuert werden können. Es braucht also zunächst den Sensor. Man könnte ihn auch Messgrössenwandler nennen. Dieser wandelt physikalische, chemische oder optische Messgrössen in elektrische Signale um. Dieser Impuls geht beim Aktor ein, der dann dafür verantwortlich ist, dass dem Signal eine Aktion in Form von Bewegung, mechanischer Arbeit oder schlicht eine Krafteinwirkung folgt. Die Aktorik ist ein Teilgebiet der Antriebstechnik.
Bei «Saw Stop» ist das der Impuls auf die Patrone, sie wird über den Aktor «gezündet». Bei der grossen und schweren Formatkreissäge muss der Aktor-Prozess wegen der Bauart und der bewegten Masse anders aussehen. Das musste auch der italienische Maschinenbauer Griggio erfahren. Als erster Hersteller hatte das heute nicht mehr existierende Unternehmen eine «Saw Stop» ähnliche Technik in einer Formatkreissäge verbaut. Nach dem Auslösen der Sicherheitsfunktion musste die Maschine aber repariert werden. Am Ende hat der Markt die Sicherheitseinrichtung nicht so aufgenommen wie erhofft, auch wenn aus Fachkreisen zu hören ist, dass Griggio gerade an Ausbildungseinrichtungen und geschützte Werkstätten durchaus Maschinen mit der Sicherheitseinrichtung verkauft hat.
Das neue «Preventive Contact System» (PCS) des österreichischen Maschinenherstellers Felder arbeitet ebenfalls mit Sensortechnik. Bei PCS dient gewissermassen das Sägeblatt als Sensor. Dieser ist hochsensibel und nimmt auch Impulse im Umfeld des Sägeblattes und damit die Annäherung an das Werkzeug wahr. Erkennt der Sensor einen drohenden Unfall, löst er die Versenkung des Sägeblattes unter den Maschinentisch aus. Der Aktor funktioniert dabei nach dem elektromagnetischen Abstossprinzip. Der Vorgang vollzieht sich unter enormen Geschwindigkeiten von nur wenigen Millisekunden. Das Sicherheitsumfeld umschliesst das Sägeblatt und schützt den Benutzer so aus allen Richtungen. Auch bei unerwarteten schnellen Annäherungen an den Sägebereich löst das PCS die Absenkung des Sägeblattes aus. Während «Saw Stop» eine Berührung des Sägeblattes für die Auslösung braucht, kann sich der Benutzer beim Felder-System praktisch nicht verletzen.
Das ruft auch kritische Stimmen auf den Plan, die den Einzug einer gewissen Sorglosigkeit beim Umgang mit den Maschinen befürchten. Sollte es dann doch einmal zu einer Fehlfunktion kommen, kann es schnell übel ausgehen. «Das Ganze ist psychologisch durchaus interessant. Ich denke, wenn man sich minimal verletzen kann, bleibt die Vorsicht beim Umgang mit Maschinen grundsätzlich erhalten», erklärt Mühldorfer. Laut der Felder-Gruppe funktioniert das System immer, unabhängig von Verschmutzungen durch Staub, auch bei verdeckten Schnitten oder bei weggeschwenkter Schutzhaube. Weil der Sensor bei PCS, wie bei «Saw Stop» auch, die Leitfähigkeit überwacht, muss man beim Schneiden von elektrisch leitenden Materialien das System abstellen.
Von Vorteil ist, dass sich die Sicherheitsabsenkung beschädigungs- und damit kostenfrei vollzieht. Laut Felder gebe es beim System keine Verschleissteile, und es sei dadurch einstell- und wartungsfrei. Wie aus der Branche zu vernehmen ist, dürfte die Aufrüstung mit PCS den Preis einer Maschine um rund 6000 Franken erhöhen. Raphael Betschart, Geschäftsführer der HM-Spoerri AG in Bachenbülach ZH, freut sich auf die ersten Maschinen dieser Art in diesem Herbst. «Ich bin überzeugt, dass die Technik gut aufgenommen wird, denn jeder Unfall kostet die Beteiligten viel mehr.»
Der Formatkreissägenhersteller Altendorf geht mit «Hand Guard» einen anderen Weg. Anstelle eines Sensors sind an der Maschine zwei optische Kameras fest installiert. «Die so ermittelten Daten werden von einem leistungsstarken Rechner synchronisiert. Dadurch wird laufend erkannt, ob sich die Hand im Gefahrenbereich bewegt. Das System setzt grundsätzlich auf Früherkennung. Droht Gefahr, gibt die Maschine zunächst ein optisches Signal», erklärt Serpil Gausmann, Leitung Marketing bei Altendorf. Verstauben können die Kameras nicht, weil sich diese gegenseitig überprüfen. Erkennen beide nicht das Gleiche, wird der Bediener wiederum informiert. Das System reagiert über die Kameraüberwachung auf die Aktionen des Bedieners. Je schneller die Bewegung zum Sägeblatt hin ist, umso früher reagiert die Maschine. Bewegt sich die Hand nur langsam zum Sägeblatt, wird der Bediener zunächst vorgewarnt. Bei einer plötzlichen Bewegung gegen das Sägeblatt senkt sich dieses innerhalb einer Viertelsekunde durch einen magnetischen Mechanismus ab und stoppt augenblicklich. Auch hier bleibt das Aggregat unbeschädigt und ist auf Knopfdruck wieder einsatzbereit. Von Vorteil bei diesem System ist, dass es bei allen Materialien funktioniert. Ein Bypass ist nicht nötig. Weil sich die Kameras auf die Erkennung der Hand fixieren, funktioniert das Ganze auch mit Handschuhen, die natürlich nicht getragen werden sollten beim Sägen von nassem Holz, bei weggeschwenkter Haube und auch mit jeder Art von Sägeblatt.
Das System ist auf dem Weg, der Mehrpreis und auch das Auslieferungsdatum sind aber noch nicht genau bekannt. «Ich bin überzeugt, dass ‹Hand Guard› in Zukunft vermehrt eingesetzt wird, auch wenn der Preis durchaus eine Rolle spielt. Aber: Lieber Unfällen vorbeugen, als anschliessend Ausfälle zu haben», zeigt sich Marco Sonderegger, Spezialist Sägetechnologie bei der Bründler AG in Ebikon LU, überzeugt. Experte Mühldorfer geht noch einen Schritt weiter: «Mittel- bis langfristig wird eine gehobene Formatkreissäge mit einem Sicherheitssystem augestattet sein. Spätestens wenn die Preise für die Technologie sinken, werden auch die skeptischen bis kritischen Stimmen verstummen.»
www.festool.chwww.martin.infowww.felder-group.com/de-chwww.altendorf.dewww.bruendler.ch
Veröffentlichung: 27. August 2020 / Ausgabe 35/2020
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