Das Auslandspraktikum war ein schönes Abenteuer

Svenja Rust steht im Elbtunnel in Hamburg. Bild: PD

Svenja Rust aus Gross SZ hat an einem Austauschprogramm für Lernende teilgenommen. Die 18-Jährige empfing zuerst für drei Wochen einen deutschen Kollegen, ehe es für sie mit ihm zusammen nach Norddeutschland ging.

Schlaf war Mangelware. Denn Svenja Rust wollte die Zeit voll auskosten. Ausruhen konnte sie sich wieder zu Hause. Die 18-Jährige aus Gross im Kanton Schwyz hat im Winter am Austauschprogramm Erasmus+ Leonardo da Vinci für Berufslernende teilgenommen und verbrachte während eines Auslandspraktikums drei Wochen in Norddeutschland. «Mein Austauschpartner war Max Kiel, ein Schreinerlernender aus Havelberg, das liegt an der Elbe zwischen Hamburg und Berlin. Man benötigt mit dem Zug je zwei Stunden in die beiden Grossstädte», erzählt sie. «Er kam zuerst drei Wochen zu mir in die Schweiz, danach flogen wir zu ihm.»

Solche Auslandspraktika werden von Berufsschulen mit ihren Partnern angeboten. «Als ich von der Möglichkeit hörte, wollte ich diese wahrnehmen. Das Auslandspraktikum steht allen Berufslernenden offen», erzählt Svenja Rust. Das Programm sei im Berufsbildungszentrum Goldau noch relativ neu, was sie etwas gespürt habe. Es hatte einige Monate gedauert, bis sie den Termin für den Austausch erhielt. «Zu diesem Zeitpunkt war ich die einzige der Schreinerlernenden, die mitmachte.» Bereut hat sie es nicht.

Ein toller Gastgeber

Mitte November letzten Jahres flog die Schwyzerin mit ihrem Austauschpartner nach Hamburg. Von da ging es mit dem Zug nach Kiel, einer Hafenstadt an der Ostsee, zu Max Kiels Familie. «Wir blieben übers Wochenende dort, weil es ein Geburtstagsfest gab», erzählt sie. «Das war sehr schön, und ich wurde von allen nett empfangen und aufgenommen.» Einen Tag später fuhren sie dann über Hamburg nach Havelberg, wo Max wohnt und arbeitet. Er teilt sich die Wohnung mit einem Arbeitskollegen, und Svenja Rust wohnte bei ihnen in der WG. «Max ist bereits 27 Jahre alt und macht nun die Tischler-Ausbildung als Zweitlehre. Er ist wie ich im dritten Jahr», erzählt die angehende Schreinerin. «Zuerst hatte ich etwas Respekt vor dem Altersunterschied. Aber Max ist ein toller Typ und hat sich grosse Mühe als Fremdenführer und Gastgeber gegeben. Wir haben uns gut verstanden.» Nebenbei: Ausser im Süden werden in Deutschland die Schreiner Tischler genannt.

Am ersten Tag ging es gleich in die Berufsschule in Stendal. Die Themen waren Fenster und Holzschäden. «Die Schreinerausbildung in Deutschland unterscheidet sich von unserer», berichtet die Schwyzerin. «Die deutsche dauert nur drei Jahre, und der Unterricht erfolgt blockweise. Und das erste Jahr ist in der Regel nur Schule.» In der Schweiz tauche der Stoff tiefer in die Materie ein. Die Deutschen würden zudem das CAD-Zeichnen nur oberflächlich streifen und das Programmieren der CNC-Bearbeitungszentren gar nicht durchnehmen. «Das hat mich verwundert, da diese Themen doch zukunftsträchtig sind.» In der Schule sei sie gut mitgekommen, erzählt sie. Es gab auch gleich einen Test. Logisches Denken hätte ihr dabei geholfen, da sie nur etwa die Hälfte des Stoffs kannte. «Die anderen Lernenden waren sehr nett, und ich habe mich wohlgefühlt.» Gewundert hat sie sich, dass der Unterricht schon am frühen Nachmittag zu Ende war. Insgesamt zwei Tage lang besuchte Svenja Rust die deutsche Berufsschule.

Vom Klein- in den Grossbetrieb

Dann ging es in den Ausbildungsbetrieb von Max, die Kiebitzberg-Gruppe, die neben der Tischlerei Schiff- und Metallbau und Mineralwerkstoff-Design anbietet und ein Hotel betreibt. «Für mich war es eine Umstellung von einem kleineren Betrieb mit rund 15 Mitarbeitenden in ein so grosses Unternehmen mit rund 100 Angestellten zu kommen», sagt Svenja Rust. «Die Arbeit in der Schreinerei war jedoch ähnlich.» Insgesamt seien sie vier Lernende gewesen. Neben dem Werkstattleiter, der für die Auszubildenden verantwortlich war, hätte sie jeden um Rat fragen können. «Es waren aber nicht alle Mitarbeitenden offen, die einen waren wortkarg, dafür waren die anderen umso herzlicher.»

Die Schweizerin arbeitete unter anderem an Möbeln für eine Praxis und lernte ein neues Beschlagsystem kennen, das die Schublade schliessen kann. Sie bediente zudem erstmals eine Korpuspresse und durfte lackieren, was in ihrem Lehrbetrieb nicht gemacht wird. Bei der Montage der Praxismöbel war sie mit dabei und stellte fest, dass die deutschen Kollegen anders arbeiten. «In meinem Lehrbetrieb passen wir alles ganz genau mit dem Handhobel an. Was hier nur grob mit einem geraden Schnitt ausreicht. Hier kommt mein Drang zum Vorschein, alles perfekt zu machen.» Besonders gefallen hat Svenja Rust die Arbeit in der Mineralwerkstoffwerkstatt. «Ich hatte zuvor noch nie mit Mineralwerkstoff gearbeitet. Das war sehr interessant.» Sie durfte zum Beispiel Sockel für Hausboote, die in der hauseigenen Werft gebaut werden, herstellen. «Zuerst wurden die Teile zugeschnitten, danach durfte ich diese auf der CNC fräsen. Dann verklebte ich die Teile und schliff sie. Der Werkstoff ist sehr vielfältig, praktisch und leicht zu verarbeiten.»

Grossbetrieb ist hierarchischer

An einem anderen Tag lernte sie, den Mineralwerkstoff zu biegen, und stellte aus dunklem Material Schallplattenständer her. «Die Arbeit im Austauschbetrieb war interessant. Man merkte, dass es in einem Grossbetrieb etwas anders läuft, irgendwie hierarchischer», blickt sie zurück. Ihr sagt es allerdings mehr zu, in einem kleineren Betrieb mit familiärer Atmosphäre zu arbeiten.

Den Austausch möchte Svenja Rust nicht missen. Es sei toll gewesen. «Max hat sich total Mühe gegeben und mir nicht nur die Umgebung, sondern auch Hamburg und Berlin gezeigt. Wir waren sehr oft unterwegs auf Sightseeing, in Restaurants oder auf Konzerten. Es war toll. Es war mir deswegen egal, dass der Schlaf zu kurz kam.»

Max hat es in der Schweiz gefallen

Vor ihrem Aufenthalt in Deutschland hatten Svenja Rust und Max Kiel die Rollen getauscht. Er wohnte für drei Wochen bei ihr und ihrer Familie, ging mit ihr zur Schule und zur Arbeit bei der Kälin AG in Einsiedeln SZ. «Auch ich habe ihm viel gezeigt von der Schweiz. Wir hatten an den Wochenenden Luzern und Bern besucht, waren auf dem Stoos wandern oder machten mit den Motorrädern eine Tour über drei Pässe.» Dem Deutschen sei besonders aufgefallen, dass in der Schweiz der Arbeit- und Schulalltag bis in den frühen Abend dauere. «Es gefiel ihm, dass man bei uns als Lernender bereits viel Verantwortung erhält und selbstständig arbeiten darf. Das wollte er seinem Chef auch vorschlagen», berichtet die 18-Jährige. «Max fand es auch toll, wieder einmal das Familienleben zu geniessen und sich von meiner Mutter bekochen zu lassen.»

So ein Auslandspraktikum kann die Schreinerlernende guten Gewissens weiterempfehlen. Es sei eine schöne Erfahrung gewesen. «Das ist aber auch vom Austauschpartner und dessen Betrieb abhängig.» Einen längeren Aufenthalt als drei Wochen hätte sie im Nachhinein aber besser gefunden, gibt jedoch zu bedenken: «Man muss sich einfach bewusst sein, dass man sich wieder zu Hause nicht unbedingt ausruhen kann. Ich musste den Schulstoff von drei Wochen nachholen». Aber das sei machbar gewesen. Sie habe sehr viel Neues gesehen, durfte fremde Städte entdecken und habe auch über sich selbst Neues gelernt. Man müsse sich einfach trauen und machen. Bezahlen musste sie für die Reise und ihren Aufenthalt in Deutschland nichts. Die Berufsschule Goldau hatte bei der Stiftung Movetia des Bundes entsprechende Fördergelder beantragt und erhalten.

Training für die Teilprüfung

Mittlerweile ist die Schwyzerin wieder im Alltag angekommen. Sie trainiert fleissig für die baldige Teilprüfung. «Ich geniesse die Arbeit in meinem Lehrbetrieb nach dem Austausch fast noch mehr. Ich kann mir keinen besseren vorstellen», sagt sie. «Ich weiss nun auch, dass ich definitiv eine Hölzige bin.» Denn in der Berufswahl interessierte sie sich auch für Automechanikerin oder Bootsbauerin. «Ich will in der Branche bleiben, vielleicht mache ich später mal eine Weiterbildung. Das nehme ich vorzu.»

Auslandspraktika werden von den Berufsschulen organisiert

Das Programm Erasmus+ wurde 1995 von der EU ins Leben gerufen, um jungen Menschen während der Ausbildung einen Auslandsaufenthalt zu ermöglichen (Studenten, Oberstufen-Schüler, Gymnasiasten). Das Förder- programm für die Berufsbildung heisst Leonardo da Vinci. Organisiert werden die Auslandspraktika durch Berufsschulen, Berufsverbände oder andere Organisationen, wie Sara Marty, die Koordinatorin für Auslandspraktika des Berufsbildungszentrums Goldau (BBZG), mitteilt. «In unserem Fall wird das Praktikum in Zusammenarbeit mit den Partnerschulen organisiert.» Bei Movetia, der Schweizer Agentur zur Förderung von Austausch und Mobilität im Bildungssystem, reiche man einen Projektantrag ein. Wenn dieser unterstützt wird, würden die Praktika mit dem Förderbetrag finanziert.

Am BBZG wurde 2020 eine Mobilitätsverantwortliche bestimmt. Im Schuljahr 2021/22 wurden die ersten Praktika durchgeführt. Bisher hätten neun Lernende das Angebot in Anspruch genommen, zwei Aufenthalte seien noch ausstehend. «Zudem hatten wir in diesem Schuljahr auch noch ein Projekt der Motorradmechaniker, bei dem die ganze Klasse nach Tschechien reiste», sagt Marty.

Am BBZG ist die Voraussetzung für Auslandspraktika, dass die Lernenden problemlos den verpassten Schulstoff in Eigenregie aufarbeiten können. Zudem müssen sie offen für Neues sein, gute Umgangsformen haben und zuverlässig sein. Schliesslich repräsentieren sie ihren Berufsstand und die Schule im Ausland. Wenn auch der Lehrbetrieb einverstanden sei, stehe dem Abenteuer Auslandspraktikum nichts mehr im Weg, sagt Marty.

Nicole D'Orazio

www.kiebitzberg.dewww.schreinerei-kaelin-ag.chwww.bbzg.ch

Veröffentlichung: 04. Mai 2023 / Ausgabe 18/2023

Artikel zum Thema

02. Mai 2024

Klein, pfiffig und mit Enthusiasmus hergestellt

Beim Lernendenwettbewerb des VSSM Kanton Zug haben neun Personen teilgenommen und ein Objekt eingereicht. Dominic Odermatt (2. Lehrjahr) und Tobias Huwyler (3.) haben die Aufgabe am besten gelöst.

mehr
02. Mai 2024

«Die Genauigkeit einer CNC beeindruckt mich»

Im Rahmen des überbetrieblichen CNC-Kurses am Berufsbildungszentrum Emme in Langnau BE hat Daniel Beer einen Schrank hergestellt. Die Arbeit am Bearbeitungszentrum war für den 19-Jährigen allerdings nicht neu. Weshalb, erzählt er im Monatsinterview.

mehr
02. Mai 2024

Teilnehmende beweisen, dass sie Holz im Blut haben

35 Lernende im vierten Lehrjahr haben bei «Art in Wood 2024», dem Wettbewerb der Luzerner Schreiner, nach eineinhalb Jahren Arbeit ein Möbel eingereicht. Am meisten Punkte erhielt Florian Jost aus Ballwil.

mehr

weitere Artikel zum Thema:

Lehrziit